Medical Gaslighting: Wenn Ärzte Symptome nicht ernst nehmen | NDR.de – Ratgeber | ABC-Z

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Beim Medical Gaslighting führen Ärzte Symptome auf Einbildung, Übertreibung oder Hysterie zurück, weil sie Patienten nicht ernst nehmen. Die professionelle Diagnose bleibt aus. Meist sind Frauen betroffen.
Der Begriff Medical Gaslighting geht auf das Theaterstück “Gas Light” aus dem Jahr 1938 zurück, bei dem ein Mann aus Gier seine Frau systematisch in den Wahnsinn treibt, indem er das Gaslicht permanent störend verändert, aber das Licht-Phänomen leugnet.
Medical Gaslighting: Patienten oft als Hypochonder abgestempelt
Vom Theaterstück abgeleitet bedeutet der Begriff Medical Gaslighting, dass sich Patienten oder Patientinnen mit tatsächlichen Symptomen in ärztliche Behandlung begeben, dort aber abgewiesen oder nicht ernst genommen werden.
Symptome wie Schmerzen, Bewegungseinschränkungen oder Beschwerden aus dem neurologischen Bereich werden als übertrieben oder gar eingebildet abgestempelt. Auch auf Stress oder andere psychosomatische Ursachen wird häufig verwiesen. Das kann medizinisch gefährliche Auswirkungen haben, denn Symptome werden beim Medical Gaslighting weder ernsthaft untersucht noch behandelt. Nicht selten machen Patientinnen und Patienten die Erfahrung als Hypochonder bezeichnet zu werden.
Ignorierte Symptome durch Gaslighting: “Ihnen kann nicht schwindelig sein”
Die Patientin Ira Schiewek sucht mehr als zwei Jahre und bei vielen Ärzten nach der richtigen Diagnose. Ihre Beschwerden werden immer wieder auf hormonelle Veränderungen nach der Geburt ihrer Tochter geschoben und nicht als eigene Symptome behandelt.
Doch ihr ganzer Körper schmerzt, die 41-Jährige leidet immer wieder unter massivem Schwindel, Erschöpfung, Müdigkeit und ihr fehlt jegliche Energie, erzählt sie: “Der Schwindel wurde so schlimm, dass ich mich nicht mehr getraut habe, mit meiner Tochter auf dem Arm die Treppen herunterzugehen, weil ich dachte, ich stürze. Da war ich noch mal beim HNO-Arzt und der hat mich dann angeguckt und meinte: ‘Hören Sie mir zu: Ihnen kann nicht schwindlig sein! Das bilden sie sich nur ein.'”
Mit Kraft und Hartnäckigkeit gegen Medical Gaslighting
Ira Schiewek bleibt hartnäckig, recherchiert auf eigene Faust. Nach unzähligen Arztbesuchen findet sie in einer Rheumatologin endlich eine Ärztin, die sie ernst nimmt und verspricht herauszufinden, was hinter ihren Symptomen steckt. Nach mehr als zwei Jahren erhält die Patientin endlich die richtige Diagnose: Morbus Lupus, eine chronische Autoimmunerkrankung. Aufgrund des verzögerten Behandlungsbeginns durch Medical Gaslighting ist die Erkrankung aber bereits weiter als nötig fortgeschritten.
Gender-Health-Gap durch Medical Gaslighting
Studien legen nahe, dass bei gleichen Beschwerden Frauen im Vergleich zu Männern länger auf eine richtige Diagnose warten und die Symptome von Frauen schneller als psychosomatisch abgetan und ignoriert werden. Eine israelische Studie zeigte 2024 auch noch einmal, dass Frauen bei vergleichbaren Schmerzen weniger Schmerzmittel verschrieben wurden als Männern bei Entlassung aus der Notaufnahme.
Weil professionelle medizinische Versorgung aufgrund von Medical Gaslighting ausbleibt oder verzögert wird, trägt das auch zum sogenannten Gender-Health-Gap bei. Der Begriff Gender-Health-Gap beschreibt eine Situation, in der es durch biologische, soziale oder kulturelle Ursachen zu unterschiedlicher Gesundheitsversorgung der Geschlechter kommt.
Während von Medical Gaslighting Betroffene häufig weiblich sind, gibt es Hinweise darauf, dass anwendenden Ärzte nicht nur, aber vor allem männlich sind: In einer Studie aus Schweden zeigten Wissenschaftler zum Beispiel, dass männliche Ärzte doppelt so oft Beruhigungsmittel zur Behandlung weiblicher Patienten mit Reizdarmsyndrom empfahlen wie Ärztinnen.
Medical Gaslighting häufig bei hormonellen und chronischen Erkrankungen
Ein höheres Risiko für Medical Gaslighting besteht bei Krankheiten, die …
- zyklisch auftreten,
- in einem hormonellen Zusammenhang stehen,
- chronisch verlaufen,
- durch Symptome geprägt sind, für die es keine eindeutigen oder nur schlechte objektive Methoden der Messung gibt (bekantes Beispiel: Long Covid).
So berichten Frauen davon, mit ihren zyklischen Unterleibsschmerzen nicht ernst genommen worden zu sein, bei denen später beispielsweise Endometriose diagnostiziert wurde. Hier suchen Frauen statistisch gesehen sieben bis zehn Jahre nach der richtigen Diagnose.
Akuter Herzinfarkt: Höhere Sterblichkeit bei Frauen
Auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind Frauen in unserem Gesundheitssystem oft im Nachteil bei der Diagnosestellung oder Versorgung mit Therapie. Das Problem: Frauen zeigen etwa bei einem Herzinfarkt andere Symptome als Männer. Statt über Brustschmerzen berichten Frauen eher von Übelkeit, Rückenschmerzen oder Müdigkeit.
Medical Gaslighting beginnt schon in der Rettungsstelle
“Studien belegen, dass Frauen länger warten in der Rettungsstelle, wenn sie Schmerzen haben. Frauen bekommen weniger Schmerzmittel, zum Beispiel. Und es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Frauen und ihre Symptome sehr häufig als psychosomatisch abgelegt werden und ihnen suggeriert wird: Das ist alles in deinem Kopf”, erklärt Prof. Dr. Mandy Mangler, Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum und dem Vivantes Klinikum Neukölln in Berlin.
In der medizinischen Forschung spielen spezifische Symptome von Frauen immer noch eine untergeordnete Rolle. “Das liegt auch daran, dass wir Medizin vom männlichen Standardpatienten her denken und manche Symptome nicht erkennen, die anders sind bei anderen Menschen”, so Mangler.
Welche Ursachen gibt es für Medical Gaslighting?
Ein Grund für Medical Gaslighting könnte in der unterschiedlicher Kommunikation der Geschlechter liegen: Männer und Frauen schilderten Beschwerden verschieden, erklärt Prof. Dr. Ute Seeland von der Universität Magdeburg. Sie ist die bislang einzige Professorin für Geschlechtersensible Medizin in Deutschland.
Laut Seeland kann es zum Problem werden, dass es in der deutschen Sprache quasi keine echten Alternativen zum Wort Schmerzen gibt: “Aus meiner Sicht und aus der geschlechtersensiblen medizinischen Sicht ist das viel zu kurz gegriffen. Frauen, die vielleicht unter dem Begriff Schmerzen etwas ganz anderes empfinden als Männer, würden zum Beispiel einen starken Druck nicht als Schmerzen bezeichnen. Das heißt, ich muss sehr differenziert fragen und wissen, wie denn vielleicht die Erlebniswelt ist. Wenn man das weiß, dann kann man ganz anders die Anamnese führen.”
Unzureichende Anamnese als Faktor bei Medical Gaslighting
Die Anamnese (Austausch über Krankengeschichte und Lebensumstände) ist das entscheidende Werkzeug von Ärztinnen und Ärzten, um zu verstehen, welche Beschwerdesymptomatik hinter Schilderungen der Patientin steckt. Herzstück ist das Arzt-Patienten-Gespräch. Doch eine sorgfältige Anamnese bedeutet hohen Aufwand, wird schlechter vergütet als Laboruntersuchungen oder bildgebende Verfahren und fällt oft dem Stress im Praxisalltag zum Opfer.
Schutz und Hilfe: Tipps gegen Medical Gaslighting
Expertinnen wie Prof. Dr. Ute Seeland und Betroffene wie Ira Schiewek empfehlen Patientinnen und Patienten ein selbstbewusstes und vorbereitetes Auftreten im Gesundheitssystem. Konkrete Tipps sind beispielsweise:
- Selbstbewusstsein für Körper und Symptome entwickeln – welche Veränderungen treten auf?
- Häufigkeit von Symptomen dokumentieren: Zu welchen Tageszeiten und in welchen Situationen treten Symptome auf? In welchen Abständen?
- Intensität der Beschwerden wahrheitsgemäß und genau beschreiben – nicht herunterspielen oder relativieren (Stichwort: Schmerzskala).
- Fragen vor dem Besuch bei Ärztin oder Arzt notieren.
- Tipp: Beim Arztbesuch begleiten lassen – zum Beispiel durch Partner, Familienangehörige oder Freunde.
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