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Max-Planck-Institut: Auf der Suche nach den Wurzeln der Intelligenz – Starnberg | ABC-Z

Heute hat sich der isolierte Campus abseits aller Hauptverkehrswege ein breiteres Forschungsfeld gesteckt: 2023 ist aus der Fusion der MPI für Neurobiologie und Ornithologie das „Institut für Biologische Intelligenz“ (MPI-BI) hervorgegangen. Darunter sind die in der Evolution entwickelten Fähigkeiten von Tieren zu verstehen, sich Wissen über ihre Umwelt anzueignen, zu speichern, anzuwenden und weiterzugeben. An beiden Standorten werden weiterhin unterschiedliche Ansätze verfolgt: In den Labors von Martinsried widmet sich man hauptsächlich Fragen der Neurowissenschaft, also zu Aufbau und Funktion der Nervensysteme. 340 Mitarbeiter führen am Fürstenrieder Wald mit modernsten Methoden etwa Experimente zum Lernen durch. In Seewiesen liegt das Hauptgewicht auf Feldforschung zur Verhaltensbiologie – kombiniert mit Zellkulturtechniken, Molekulardiagnostik und Genetik. Etwa 180 Wissenschaftler aus 30 Nationen sind dort beschäftigt.

Dabei liegt – wie zu Lorenz Zeiten – ein Fokus weiterhin auf der Forschungsarbeit mit Vögeln. Das zeigt auch die jüngste Berufung von Maude Baldwin zur Abteilungsleiterin: Sie ist die erste Frau in dieser Funktion, die derzeit außer ihr noch sieben Männer am MPI-BI innehaben. Wenn man der 41-jährigen US-Amerikanerin gegenübersitzt und sie über ihre Arbeit spricht, besteht akute Infektionsgefahr: die Begeisterung für Vögel, Intelligenz- und Evolutionsforschung scheint aus ihren Augen zu sprühen und steckt sofort an. Selbst hat sich Baldwin den Ornithologie-Virus früh eingefangen: „Ich bin in einem ländlichen Bereich im Westen des Bundesstaats New York aufgewachsen und viel mit meinem Hund durch die Wälder gestreift. Ich erinnere mich noch genau, wie mir dabei ein kleiner, bunter Vogel auffiel, den ich nicht kannte.“ Der Forschergeist in der Zehnjährigen war geweckt und ließ ihr keine Ruhe, bis sie das Tier als Magnolienwaldsänger bestimmt hatte.

Begeistert sich seit ihrer Kindheit für Vögel: Maude Baldwin ist MPI-Direktorin in Seewiesen. (Foto: Arlet Ulfers/Arlet Ulfers)

Nach dem Studium arbeitete sie in Seewiesen und Andechs als Praktikantin. Dabei lernte sie die Biologin Emily DuVal kennen und bekam die Chance, als deren Assistentin das bizarre Balzverhalten von Schnurrvögeln in Panama zu untersuchen: Die Männchen einiger Arten führen eigenartige Tänze auf, „die mit ihren schnellen Seitwärtsschritten an Michael Jacksons ’Moon Walk’ erinnern“, erklärt Baldwin. In der Folge kehrte sie in die USA zurück, wo sie 2015 an der Eliteuniversität Harvard mit einer Arbeit über die Zuckerwahrnehmung von Kolibris promovierte. Danach übernahm sie am damaligen MPI für Ornithologie in Seewiesen eine Forschungsgruppe.

Im Fünfseenland sei der Artenreichtum genau so bezaubernd wie in den Tropen, findet Baldwin. Auch in der Freizeit zieht es sie zur Vogelbeobachtung, etwa ins Schutzgebiet am Ammersee-Südufer. Im Moment ist sie freilich primär als Mutter von zwei kleinen Kindern gefordert, ihre jüngste Tochter kam im Dezember zur Welt. Sie lebt mit ihrem Mann, einem Biologen aus Chile, in Starnberg. Auf eine Bemerkung zur aktuellen politischen Entwicklung in ihrem Heimatland betont Baldwin lächelnd, sie sei gerade „sehr glücklich, in Deutschland bleiben zu können“. Ihre nun zur neuen Abteilung erweiterte Forschungsgruppe umfasst 14 Mitarbeiter, die sich mit der Evolution sensorischer und physiologischer Systeme befassen, mit Schwerpunkt auf Geschmacksempfinden und Verdauungsorganen von Wirbeltieren.

Baldwin hat dazu vorrangig den Geschmackssinn von Vögeln untersucht: Weil sie aus fleischfressenden Raubsauriern hervorgegangen sind, haben sie die Rezeptoren für süß verloren, wie etwa auch Katzen. In ihrer Dissertation konnte Baldwin nachweisen, dass die nektarfressenden Kolibris dennoch mit umgewandelten Rezeptoren für Umami – also herzhaft – Süßes schmecken können. Die Arbeit im Team von Wissenschaftlern aus vier Kontinenten beweist nun, dass noch viel mehr Vogelarten so indirekt auf Süßigkeiten ansprechen. Dies betrifft die meisten Singvögel ebenso wie die als Insektenfresser bekannten Spechte, die gelegentlich an Baumsäften naschen. Ihr naher Verwandter, der Wendehals, der sich von Ameisen ernährt, hat diese Fähigkeit im Laufe der Evolution ein zweites Mal verloren.

Den Sinn für Zucker haben Vorfahren der heutigen Singvögel offenbar vor zig Millionen Jahren in Australien erworben, wo süße Nahrungsquellen wie Insektensekrete und Baumsäfte sehr früh zur Verfügung standen. Das Geschmacksempfinden trug womöglich dazu bei, dass sich Singvögel über die ganze Welt verbreiteten und unterschiedlichste ökologische Nischen besetzten. Ihre Abteilung hoffe, „weitere wichtige Beiträge zum Verständnis signifikanter Veränderungen in der Evolutionsgeschichte der Wirbeltiere zu leisten sowie Zusammenhänge und mögliche Koevolutionen zu verstehen“, sagt Baldwin.

So speziell ein Forschungsfeld wie der Geschmackssinn von Vögeln scheint, lässt es dennoch eventuell Rückschlüsse auf die menschliche Gesundheit zu. Für die Humanmedizin ist beispielsweise von Interesse, wie Kolibris Zucker in Mengen konsumieren können, die Menschen krank machen. Die Grundlagenforschung könnte auch zu Erkenntnissen über unsere Ernährungsweisen führen. Uns liefern die Rezeptoren im Mundraum längst nicht mehr bloß Informationen, um Nahrhaftes von Giftigem zu unterscheiden. Essen ist hauptsächlich eine Geschmacksfrage geworden, der in Zeiten der Klimakrise aber auch eine politische Dimension zukommt.

Waldspitzmäuse verhungern, wenn sie nicht alle drei Stunden Nahrung finden

Auch die Studien an Waldspitzmäusen am MPI für Ornithologie könnten zur medizinischen Forschung beitragen. Die winzigen Fleischfresser mit enorm beschleunigtem Stoffwechsel bauen keine Fettreserven auf und müssen verhungern, wenn sie nicht alle drei Stunden Nahrung finden. Um das Überleben in den kargen Wintermonaten zu sichern, verlieren sie ein Fünftel ihres Körpergewichts; Knochen, Organe, ja sogar das Gehirn schrumpfen, um dann im Frühjahr wieder zu wachsen. Diese Veränderungen an der Knochensubstanz ähneln Vorgängen, wie sie bei Osteoporose ablaufen.

Der genau mittig zwischen Starnberger und Ammersee im Wald gelegene Gebäudekomplex ist nicht öffentlich zugänglich – anders als das MPI-BI in Martinsried, wo im vergangenen Jahr ein Rundweg mit 13 Informationstafeln eingeweiht wurde. Seit 2017 fand in Seewiesen auch kein „Tag der offenen Tür“ mehr statt, was Baldwin persönlich sehr bedauert. Sie erinnere sich noch gut, wie seinerzeit 1000 Besucher „von Großmüttern bis zu den Enkeln sehr detaillierte Frage zu unserer Forschung gestellt haben“. Pandemie und die Institutsfusion haben eine Wiederholung des Besuchstages bislang herausgezögert.

Das Konrad-Lorenz-Haus in Seewiesen mit dem Neubau von 2006. (Foto: Arlet Ulfers/Arlet Ulfers)
An einer Wand im Altbau haben sich die Forscher verewigt. (Foto: Arlet Ulfers/Arlet Ulfers)
Im Neubau befinden sich verschiedene Labors, im hinteren Teil des Gebäudes können sich die Mitarbeiter der drei wissenschaftlichen Abteilungen und neun Gruppen treffen. (Foto: Arlet Ulfers/Arlet Ulfers)

Auf dem Seewiesener Campus gruppieren sich um ein zentrales, hochmodernes Laborgebäude Häuser mit Forschungseinrichtungen für drei wissenschaftlichen Abteilungen und neun Gruppen. In einem Gebäude mit Bibliothek, Verwaltungs- und Seminarräumen haben sich im Treppenhaus auf einer Autografenwand seit 1958 externe Besucher verewigt – sie liest sich wie ein „Who is who“ der Verhaltensphysiologie der 1960er- und 1970er-Jahre.

Im Obergeschoss hat der geschäftsführende Direktor Manfred Gahr an historischer Stätte sein Büro. Seit zwanzig Jahren leitet er die zweite MPI-Abteilung in Seewiesen, die sich mit Verhaltensneurobiologie befasst: Er und 37 Kollegen haben dabei vor allem Sexualität, Gesangsverhalten und Gehirnentwicklung von Singvögeln im Blick. Der dritte Abteilungsleiter Bart Kempenaers erforscht Paarung und Verhaltensökologie von Vögeln und sei dabei „für Feldstudien zwischen Neuseeland und Alaska unterwegs“, sagt Gahr. Aber auch Seewiesen biete „tolle Möglichkeiten, um Forschung im Labor und im Freiland zu betreiben“, findet er, genau wie Baldwin. Er bittet in das unter Zoologen legendäre Kaminzimmer: Der große Raum gehörte zur Wohnung des Gründungsdirektors Erich von Holst, der dort stundenlang mit Konrad Lorenz und anderen Kollegen fachsimpelte.

Direktor Manfred Gahr in der Voliere für Kanarienvögel. (Foto: Arlet Ulfers/Arlet Ulfers)
Hinter dieser Tür befindet sich eine Voliere für Zebrafinken. An ihnen wurden die Reaktionen auf nächtliche Lichtverschmutzungen untersucht. (Foto: Arlet Ulfers/Arlet Ulfers)

Um seine Forschungsobjekte auch persönlich vorzustellen, lädt der Biologe zum Besuch der Volieren auf dem Gelände ein. Dazu muss man einen Kittel und Plastik-Überschuhe überziehen, schließlich sollen keine Infektionen eingeschleppt werden. Dass den Vögeln dort nicht nur als Versuchsmaterial, sondern auch als Kreaturen Respekt entgegengebracht wird, zeigt ein Gehege mit zerzausten Zebrafinken. An ihnen wurden die Reaktionen auf nächtliche Lichtverschmutzungen untersucht, nun bekommen sie hier das Gnadenbrot. Ihre natürliche Lebenserwartung haben sie längst hinter sich gelassen, in der Natur werden Finken mit eingeschränkter Vitalität schnell Opfer von Raubtieren.

Der Schwarm Kanarienvögel nebenan steht dagegen gerade im Dienste der Forschung. Rund 60 der populären Ziervögel leben naturnah in einem Saal mit einem Baumstamm und reichlich Flugraum. Nur die großen Fenster sind verklebt: Die Vögel hatten bei den Wildtieren der Umgebung zu großes Interesse erregt, erklärt Gahr. Jetzt sitzen die Kanaris ungestört und gesellig auf den Zweigen: Lautstark zwitschernd und singend scheinen sie sich glänzend miteinander zu unterhalten. Doch dieses harmonische Sozialverhalten ist nur im Winter zu beobachten. Sowie die Tage im Frühling länger werden, tritt bei den Männchen mit Balzgesängen die Rivalität in den Vordergrund, und sie legen zänkisch ein ausgeprägtes Revierverhalten an den Tag. Ist die Brutsaison wieder vorbei, schrumpfen die Hoden auf mikroskopische Größe zurück, „saisonale Kastration“, nennt Gahr das.

Könnte hormonelle Regulation auch segensreiche Folgen für die Menschheit haben?

Wieder im Freien drängt sich den Besuchern der Gedanke auf, dass eine derartige hormonelle Regulation auch segensreiche Folgen für die Menschheit haben könnte. Liegt deren Geschick nicht zu sehr in der Hand testosterongesteuerter Egomanen? Wie lässt sich toxische Männlichkeit drosseln? Dies könnte zur existenziellen Frage für das Weiterbestehen des Homo sapiens werden. Doch die reizvolle und überbordende Natur Seewiesens lenkt rasch von finsteren Gedanken ab. An den Wegen sprießen Pilze, einige Forscher auf dem Campus sammeln sie in der Mittagspause ein, um sie zu verspeisen. Der Esssee scheint fast von gewaltigen Karpfen überzuquellen, Enten dümpeln darauf herum.

Vor drei Jahren sind wieder Gänse in Seewiesen eingezogen: Für sie wurde eine 75 Meter lange, schwimmende Voliere in den See hinein gebaut. (Foto: Arlet Ulfers/Arlet Ulfers)
Sorgfältig nummerierte Enten liefern den Forschern unter anderem Erkenntnisse zum Schlaf. (Foto: Arlet Ulfers/Arlet Ulfers)

Nach jahrzehntelanger Pause sind auch wieder Gänse in Seewiesen ansässig geworden. Aus Lorenz’ Zeiten stammt noch das Gänsehaus, in dem auch die um Aufzucht und Dokumentation bemühten „Gänsemädchen“ wohnten. Später wurden dort Büros für Techniker untergebracht, es folgte eine Forschungsgruppe, die sich unter anderem mit Raben der Entstehung von Gebärdensprache unter Vögeln widmete. Gänse sind dort vor drei Jahren wieder eingezogen: Für sie wurde auch eine 75 Meter lange, schwimmende Voliere in den See hinein gebaut. Die Forschungsgruppe von Niels Rattenborg befasst sich mit dem Vogelschlaf und geht unter anderem der Frage nach, wie Zugvögel beim tagelangen Flug über Ozeane ihre Nickerchen halten, ohne abzustürzen. Am und im Esssee sollen nun an Gänsen die Schlafphasen beim Schwimmen untersucht werden. Ihr mit Netzen überdachtes Gehege ist von Bewegungsmeldern und Kameras umstellt. Nicht nur Ornithologen erwarten sich aus der Schlafforschung in Seewiesen Erkenntnisse: Vielleicht lassen sich daraus Rückschlüsse auf das Schlafwandeln bei Menschen ziehen?

Konrad Lorenz wurde durch seine Forschung an Graugänsen weltberühmt, doch in Seewiesen erinnert an den „Gänsevater“ selbst fast nichts mehr. (Foto: STF/AFP)

Wegen der einfacheren Überwachung hat man statt der von Lorenz gehaltenen Graugänse für diese Studien Kanadagänse ausgewählt: Ihre weißen Augenlider auf den schwarzen Köpfen sind nachts besser wahrzunehmen. An den „Gänsevater“ selbst erinnert im Kult-Institut fast nichts mehr – wohl auch, weil er in der Nazizeit deren rassistische Ideologie propagierte. Keine Gedenktafel im Campus ehrt den einstigen Star der Max-Planck-Gesellschaft, selbst auf der Autogramm-Wand im Treppenhaus sucht man Lorenz Namen vergebens. Für die heutige Forschung in Seewiesen spiele er jedenfalls keine Rolle mehr, stellt MPI-Direktor Gahr fest.

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