Mauerfall-Meilenstein in Prag: Als Genscher den berühmten Halbsatz sprach | ABC-Z
Mauerfall-Meilenstein in Prag
Als Genscher den berühmten Halbsatz sprach
30.09.2024, 09:58 Uhr
1989 suchen Tausende DDR-Bürger in der westdeutschen Botschaft in Prag Zuflucht. Sie hoffen, von dort aus nach Westdeutschland ausreisen zu können. Am 30. September erlöst Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher die Wartenden schließlich. Ein Zeitzeuge berichtet.
Jens Hase erinnert sich gut an den Botschaftszaun, der für ihn den Sprung in die Freiheit bedeutete. “Heute ist der Zaun schön anthrazitfarben, damals war er rostig”, sagt der 54-Jährige. Der Rost habe den Händen beim Hochklettern Halt gegeben. Ungefährlich war das nicht. “Ich habe heute noch an meiner rechten Hand eine Narbe, weil ich mir am Daumen ein bisschen die Hand aufgerissen habe”, sagt Hase. “Aber da bin ich schon stolz drauf.” Im September 1989 war der gebürtige Eisenacher einer von Tausenden DDR-Flüchtlingen, die in Prag über den Zaun der westdeutschen Botschaft kletterten und dort Zuflucht suchten.
Ohne das zu diesem Zeitpunkt zu wissen, brachten sie mit ihrer Flucht aus dem sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat auch das große Rad der Geschichte in Bewegung. “Wir wollten ja nur weg”, sagt Hase, der heute in Schwaben lebt. “Jeder hatte einen anderen Grund, warum er gegangen ist.” Er selbst war als 19-Jähriger allein in Eisenach zurückgeblieben. Seine Eltern hatten einen Ausreiseantrag in den Westen gestellt, der genehmigt wurde – sein eigener aber nicht. Auf junge Arbeitskräfte wollte die DDR nicht verzichten.
Nun trennten Mauer und scharf bewachte Grenzanlagen zwischen beiden deutschen Staaten die Familie. “Ich habe natürlich meine Eltern vermisst”, erinnert sich Hase. “Und ich habe dann auch gemerkt, dass sie mir das Leben immer schwerer gemacht haben im Automobilwerk, wo ich gearbeitet habe.” Im Westfernsehen sah Hase Mitte September 1989 einen Bericht über die Botschaftsflüchtlinge in Prag. Er packte seinen Rucksack mit dem Nötigsten und fuhr los in die damalige tschechoslowakische Hauptstadt.
Im Zug traf er auf eine misstrauische DDR-Zöllnerin, die ihn einer Leibesvisitation unterzog. “Und dann ist sie ausgestiegen, der Zug ist weitergefahren und ich habe gezittert am ganzen Körper.” Als er in der Botschaft ankam, traf er auf viele Gleichgesinnte. Von Tag zu Tag wurden es mehr, bis die Zahl der Flüchtlinge im “Palais Lobkowicz” auf rund 4500 anschwoll. Die Zustände waren prekär bis katastrophal. Vor den wenigen Toiletten bildeten sich lange Schlangen. Die Menschen schliefen auf Treppenstufen oder in Feldbetten. Viele harrten dort bereits seit Wochen aus. Die Gefahr von Seuchen, eines Großbrands oder einer Massenpanik stieg.
“Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen …”
“Heute rückblickend habe ich das nicht als Belastung empfunden, denn ich war in Sicherheit”, sagt Hase. Zwischen Bonn, Moskau und Ost-Berlin sorgte die Lage der Flüchtlinge indes für rege Aktivität – doch lange ohne Ergebnis. Am 30. September 1989 lag Hase gerade auf “seiner Treppenstufe”, um etwas Schlaf nachzuholen. “Da wurde ich wach, weil es laut wurde. Und dann habe ich sofort Genscher erkannt.” Für den 19-Jährigen eine ungewohnte Erfahrung: “Ich war fasziniert, dass es jemanden, den man eigentlich nur aus dem Fernsehen kennt, in der Realität gibt.” Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher bat die Menschen, in den Hof zu gehen, weil er ihnen etwas mitteilen wolle.
Auf dem Balkon fiel dann einer der berühmten Halbsätze der Geschichte: “Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …”, sagte Genscher, der von Bundesminister Rudolf Seiters begleitet wurde. Der Rest des Satzes ging im Jubel der Menschen unter. Die Ausreise, sie war möglich geworden – doch sie sollte in Zügen über das Territorium der DDR führen. “Da war die Feierstimmung gleich wieder weg”, erinnert sich Hase.
Viele glaubten an eine perfide Falle des Honecker-Regimes. Als die Menschen im ersten Zug wenige Stunden später die Grenze der DDR zur BRD passierten, waren Jubel und Erleichterung umso größer. “Der Zug hat gewackelt”, sagt Hase. “Es war gigantisch. Alle hingen dann an den Fenstern. Es war dämmerig. Das war der Westen – und wir waren im Westen.”
Wenige Wochen später fällt die Mauer
Der Flüchtlingsstrom aus der DDR war nicht mehr aufzuhalten. Die Botschaft in Prag blieb nicht lange leer. Am 3. Oktober hielten sich dort bereits wieder rund 4000 Menschen auf. Weitere Sonderzüge folgten. Als die DDR die Grenze zur Tschechoslowakei schloss, um die Ausreisewelle zu stoppen, heizte das den Unmut der eigenen Bevölkerung nur noch mehr an.
Die Massendemonstrationen in Leipzig wurden immer größer. Unter dem Druck der Proteste wurde der Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei am 1. November wieder aufgenommen. Zwei Tage später gestattete die DDR-Führung ihren Bürgern die direkte Ausreise von dort in die Bundesrepublik.
Das Tor im Eisernen Vorhang stand offen. Es dauerte nicht mehr lange, bis sich selbst dieser Umweg über das sozialistische Ausland erübrigte: Am 9. November 1989 fiel in Berlin die Mauer. Wenn Jens Hase heute vor Schülern von seinen Erlebnissen erzählt, wird er oft gefragt, warum er sich denn nicht den Stress gespart und noch ein paar Wochen gewartet habe. Dann sagt er: “Niemand weiß, wie es ausgegangen wäre, wenn es die Flüchtlinge in Prag nicht gegeben hätte.”