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Material-Skandal? Hannawald: „Deswegen springen die wie die letzten Moorhühner, das nervt mich“ | ABC-Z

AZ: Herr Hannawald, die Nordische Ski-WM in Trondheim hat begonnen und am Freitag werden bei den Frauen bereits die ersten Medaillen im Skispringen vergeben. Bei den deutschen Männern sieht es nicht allzu rosig aus, aber die Hoffnung soll man ja nie verlieren. Wie wahrscheinlich sind Wunder denn überhaupt im Skispringen?
SVEN HANNAWALD: Es ist eine Sportart, die auf der einen Seite super schön sein kann, aber natürlich auch frustrierend. Das Gute ist, auch wenn man mal eine schlechte Phase hat, mit der richtigen Material-Abstimmung ist eine schnelle Veränderung möglich. Beim Sprung an sich sehe ich bei den Deutschen keine großen Unterschiede zum Anfang der Saison.

Aber es fehlen die Ergebnisse.
Deswegen ist für mich auch das Material das klare Thema, weil es mich einfach nervt, dass wieder gewisse Sachen zugelassen werden, die im Nachhinein für die Deutschen Gift sind. Aber sie hatten nach Sapporo nun zwei Wochen Zeit, sich weitere Gedanken zu machen, vielleicht mal andere Wege zu gehen. Und ich habe die Hoffnung, dass es am Ende durch eine Neuerung doch klick macht. Dadurch, dass es bei der WM mit der kleinen Schanze losgeht, wirkt sich das Material noch nicht so entscheidend aus. Es wäre schön, wenn sie nicht direkt wieder einen auf den Deckel kriegen.

Lascher Umgang mit den Anzügen der Springer? „Das Augenzudrücken spricht sich aber rum“

Wenn man vom Material spricht, dann sind es oft die Anzüge. Sind da die Kontrollen zu nachlässig geworden?
Ich möchte nicht noch Öl ins Feuer gießen, das ist ein heikles Thema. Aber wenn du merkst, dass rechts und links Dinge zugelassen werden oder gehen, musst du mitgehen. Das ist einfach in jeder Sportart so. Was mich aber nervt, ist, dass sie von letzter Saison gelernt haben müssten, weil es ähnlich war, dass am Anfang von den Anzügen her alles gut war und dann über die Saison wieder so ein Schlendrian reinkam. Wenn ein Springer kommt mit einem Anzug, sie messen den nach und der ist zwei Millimeter zu groß, dann sagt der Menschenverstand: „Ach komm, zwei Millimeter sind nicht so wichtig. Ändere es bitte beim nächsten Mal und ich drücke ein Auge zu.“ Das Augenzudrücken spricht sich aber rum.

Was ist die Lösung?
Dass diese Kontrolle abgegeben wird zu einem Softwareprogramm. Ich habe die Hoffnung, dass es bald so weit ist, dass auch die Nachmessung mit Anzug ein Computer übernimmt. Und bei dem gibt es nicht zwei Millimeter. Selbst wenn er nur einen Millimeter zu groß ist, gibt es das rote Licht. Da gibt es keine Diskussionen, fertig, aus.

„Es nervt mich, dass wir über den Bundestrainer diskutieren, der eigentlich gar nichts dafür kann“

Und der Nachteil ist aktuell so erheblich?
Bei unseren deutschen Springern sehe ich keine großen Macken, man sieht, dass das alles aerodynamisch laufen müsste, und die haben keine Chance. Es nervt mich dann, dass wir über den Bundestrainer diskutieren, der eigentlich gar nichts dafür kann. Deutschland hat sich wie alle anderen perfekt auf dieses neue Reglement, das im Sommer kommuniziert wurde, was rigoroser und strikter sein sollte, vorbereitet. Die sind in der ganzen Welt rumgeflogen, die waren in Schweden im Windkanal. Am Anfang von der Saison sprechen wir dann von der besten jemals und jetzt zu dem Zeitpunkt sieht so aus, als ob es die schlechteste Saison wird. Und das innerhalb von zwei Monaten. Das kann doch nicht sein. So viel Fehler kannst du in den Sprung gar nicht einbauen, dass du so schlecht springst, wenn du anfangs so gut warst.

Der Einbruch ist ein großes Rätsel für Außenstehende, die nur auf die Ergebnisse schauen.
Du kannst dann auch am Abend ins Spielcasino gehen. Das ist das, was mich nervt. Ich möchte, dass es irgendwann mal so ist, dass klar kommuniziert wird, was sie wollen und das auch durchgezogen wird. Man muss aber sagen, dass Österreich einen ähnlichen Sprungablauf hat, und sie bekommen es hin, irgendwie noch mitzuhalten. Das ist das einzige, wo ich sehe, da ist noch ein bisschen was. Die haben noch andere Mittel und Wege, da mitzukommen. Aber dieses Reglement unter der Hand wieder lockerer zu lassen, das nervt.

„Obwohl der lockere Weg der richtigere wäre – du kriegst es einfach nicht rein“

Es ist auffällig, wenn man das Skifliegen dazunimmt: Je größer die Schanze, desto größer der Abstand der Deutschen.
Weil der Sprung an sich, den sich die Deutschen antrainiert haben mit engeren Anzügen, da kannst du nicht volle Attacke nach vorn, was ja wichtig ist, um Geschwindigkeit mitzunehmen. Jetzt hast du wieder mehr Fläche und dann ist mein Lieblingsbeispiel der Domen Prevc, da sage ich am Saisonanfang: Wenn er nicht umdenkt, der kann zu Hause bleiben, der kann Tetris spielen, der muss seinen Sprung ändern. Jetzt gewinnt der wieder Wettkämpfe, weil er die Fläche hat. Wenn du den Sprung höher ansetzt, wie die Deutschen, steht die Mehrfläche im Wind und bremst dich rigoros runter. Und deswegen springen die wie die letzten Moorhühner. Das nervt mich.

Macht die fehlende Lockerheit den Unterschied zu den Österreichern? Auf der einen Seite die Deutschen, die mit ihrem Frust kämpfen. Auf der anderen Seite die Österreicher mit ihrer positiven Ausstrahlung.
Als Deutscher hast du dieses Arbeiter-Gen, dieses: „Nur die Harten kommen in den Garten.“ Die Österreicher sind eigentlich grundlegend genau gleich. Die wollen auch vorwärtskommen, wenn die verlieren, drehen die durch. Aber das wird einfach überlagert von einer gewissen Lockerheit, die du als Deutscher nicht an den Tag legen kannst. Aus welchen Gründen auch immer. Obwohl der lockere Weg der richtigere wäre. Aber du kriegst es einfach nicht rein.

„Die Frauen haben aktuell einfach eine positive Ausstrahlung – das kriegen die Jungs auch mit“

Plakativ gefragt: Müssen diesmal die Frauen die Medaillenbilanz retten?
Das wäre auch wieder ein Zeichen, dass es nicht nur die Männer gibt, sondern auch die Frauen. Die natürlich gerade mit Selina Freitag und mit Agnes Reisch für Furore sorgen. Das ist unheimlich toll mit anzusehen. Mit Heinz Kuttin ist auch ein Trainer da, der wahrscheinlich genau der Richtige ist. So wie das alles zusammenpasst gerade, ist es super. Selina war jetzt sechs Mal Zweite und die Serie von Nika Prevc mit sechs Siegen hintereinander, die reißt auch irgendwann. Ich habe die Hoffnung, dass es vielleicht für Selina der große Wurf wird oder werden kann.

Ist es bei so einer WM möglich, dass man sich gegenseitig mitzieht oder aufputscht?
Ja, nicht nur bei der WM, sondern auch beim Beispiel der Mixed Team-Wettbewerbe. Die waren alle super erfolgreich, obwohl zum Beispiel in Lake Placid die Ergebnisse in den Einzelspringen der Jungs nicht überragend waren. Und dann zaubern die da Sprünge hin … Die Frauen haben aktuell einfach eine positive Ausstrahlung, die kommen mit mehr Selbstvertrauen und das kriegen die Jungs auch mit. Die holt es mal aus ihrem Gedankenkino raus. Die merken: „Oh, hier ist was anderes, da ist Positivität und Freude“ – und zack funktioniert es. Das muss jetzt nicht heißen, dass das, was in Lake Placid funktioniert hat, automatisch jetzt bei der WM funktioniert. Am Ende wird das aber, glaube ich, der Wettkampf mit der größten Hoffnung.

„Stefan Horngacher kann nicht eins zu eins das rauslassen, was er vielleicht denkt“

Wenn wir nochmal zum Bundestrainer kommen: Sie haben klar gesagt, sie sprechen ihn von jeder Schuld frei. Die öffentliche Diskussion ist trotzdem da. Wie kann der Verband seinen Bundestrainer, von dem sie ja offenbar überzeugt sind, stärken?
Man muss einfach signalisieren, dass man hinter Stefan Horngacher steht. Das ist das Wichtigste. Den Rest machen Stefan Horngacher und sein Team, die arbeiten wie die Verrückten. Der wird jetzt die letzten zwei Monate keine ruhige Minute in der Nacht gehabt haben, weil er vielleicht doch noch eine Idee hat, was man machen könnte. Da wirst du kirre. Stefan Horngacher kann nicht eins zu eins das rauslassen, was er vielleicht denkt. Ich kann das entspannter machen, weil ich außen vor bin und meine gewissen Erfahrungen habe und die Unterschiede sehe. Aber dieser Rückhalt ist unheimlich wichtig. Wenn du merkst: „Okay, die stehen eigentlich gar nicht mehr hinter uns.“ Das ist natürlich dann noch mal schwieriger.“

Daraus abgeleitet: Ist Stefan Horngacher der Richtige für den Olympia-Weg nach Mailand?
Auf jeden Fall. Ich sehe auch keine Alternative, obwohl sich natürlich international immer viel bewegen wird, aber das, was jetzt aufgebaut wurde, da wird gut gearbeitet. Es ist ein gutes Team. Ich spüre jetzt bei niemandem, dass er da größere Probleme hat. Es wird immer Kleinigkeiten geben, das ist klar, aber nicht so, dass ich jetzt sage: Okay, das ist zum Scheitern verurteilt. Deswegen halte ich an ihm komplett fest.

Was wünschen Sie sich für diese bevorstehenden Wettkämpfe?
Ich hoffe auf drei bis vier Medaillen, plus eine überraschende vielleicht. Das ist durchaus anspruchsvoll. Aber Selina hat es drauf. Und bei den Jungs habe ich die Hoffnung, dass sie natürlich im Mannschaftswettkampf ein bisschen auftauen, vielleicht eventuell was finden.

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