Kultur

“Märtyrer!” von Kaveh Akbar: Der allerschönste Zungenkuss | ABC-Z

Wenn es stimmt, was Orkideh in diesem Roman sagt, dann wurde der Kubismus nicht von Braque oder Picasso erfunden und auch nicht in Paris, sondern Jahrhunderte zuvor in Persien, und das kam so: Safawidische Gesandte aus Isfahan hatten die haushohen Prunkspiegel bestaunt, die in Frankreich, Belgien und Italien die Palastsäle zierten, und als sie dann ihrem Schah davon erzählten, wollte der so etwas auch haben, ganz gleich, zu welchem Preis. Doch ging die sperrige Fracht zu Bruch auf ihrem Orienttransport, die Architekten des Schahs standen vor einem Berg aus Millionen kleinster, wenn auch kostspieliger Scherben. Sie machten das Beste draus. Und verbastelten das reflektierende Glas höchst kunstfertig in Mosaiken, Schreinen und Gebetsnischen, sodass die Perser notgedrungen identisch wurden mit ihren oszillierenden Spiegelbildern. “Wir waren”, sagt Orkideh, “schon seit langer Zeit darin geübt, uns selbst, unsere Natur, als kompliziert und vielschichtig zu begreifen. Zumindest eine Zeit lang. Kein durch und durch guter, heldenhafter Siegfried, der gegen einen durch und durch bösen Drachen kämpft.”

Was ist, zum Beispiel, seitdem geschehen? Das märchenhafte Persien ist heute als der Iran verrufen. Zweitens: Der Lyriker Kaveh Akbar hat seinen Debütroman geschrieben, der trotz seines Titels, Märtyrer!, auf keine Achse des Guten oder Bösen gehört. Er war 2024 eines der Lieblingsbücher von Barack Obama. Spiegelscherbenhaft gebrochen erscheinen darin die Hauptfiguren Cyrus Shams und die besagte Orkideh, wobei die Eckdaten von Cyrus’ Geschichte auch zu Kaveh Akbars Vita passen: Der kam 1989 in Teheran zur Welt und wanderte mit seiner Familie schon als Zweijähriger in den Mittleren Westen der USA aus; eine gnadenlose Provinz, wo er, schon seines Äußeren wegen, als Deplatzierter aufwuchs, was ihn dem Suff, den Drogen und dann den Anonymen Alkoholikern in die Arme trieb. Wie sein Romanheld: Cyrus taumelt durch die “Welt mit all ihren Auswahlkästchen – weder Iraner noch Amerikaner, weder Muslim noch Nicht-Muslim, weder alkoholabhängig noch sinnstiftend genesen, weder schwul noch hetero. Jedes Lager fand ihn zu sehr dem anderen zugehörig.”

Wie Akbar fabriziert auch Cyrus Gedichte und vielleicht einen Roman, das weiß er noch nicht so genau; worum es geht, verrät jedenfalls der Name der Word-Datei, in der er schon ewig herumschreibt: “BUCHDERMÄRTYRER.docx”. Ein Dokument der Gottsucherei im Nebel, kein Glaube hält einen verlässlichen Sinn mehr parat. Zeichen und Wunder? “Vielleicht”, räsoniert Cyrus, hat “Gott ja keinen Bock mehr auf spektakuläre Knalleffekte wie brennende Büsche und Heuschreckenplagen”. Die Zeit und Raum übergreifende Idee des Martyriums aber fasziniert den Helden. Müssen wir den “einen schönen Tod”, den wir haben, wirklich bloß läppisch vergeuden? Der antike chinesische Dichter Qu Yuan (ertränkte sich aus politischer Überzeugung in einem Fluss), der IRA-Terrorist Bobby Sands (starb im Hungerstreik), Jeanne d’Arc (landete auf dem Scheiterhaufen): Cyrus hat ihre Konterfeis ausgedruckt und damit die Küche der Faulenzer-WG tapeziert, in der er mit seinem duldsamen Boyfriend irgendwie über die Runden kommt. Es fasziniert ihn, dass es in Teheran eine Bobby-Sands-Straße gibt, er weiß aber auch, was es im Iran-Irak-Krieg bedeutete, wenn iranische Soldaten an der Tür alter Frauen klopften und die frohe Botschaft überbrachten: “Herzlichen Glückwunsch, Ihr Sohn ist ein Märtyrer geworden.” Frauen, die sich fortan nicht zum dauerbeseelten Lächeln zwingen konnten, baumelten in Teheran vielleicht schon bald vom Baukran. Da scheinen dem amerikanisierten Nachwuchsdichter die eigenen Suizidgedanken wie koketter Luxus: Cyrus “kam sich vor wie Hamlet, hing eigentlich nur trübsinnig herum (…) während alle anderen ihm Bananen und Schokoriegel reichten.” 

Dies ist ein kluger und dunkler und ziemlich komischer Roman. Von dessen Handlung wollen wir ja noch fast gar nichts verraten. Wie steht es um die Geschichte von Cyrus’ Mutter, von der es heißt, sie sei 1988 an Bord des historisch verbürgten Iran-Air-Flugs 655 von Teheran nach Dubai gewesen? Die zivile Maschine war von einem US-Kriegsschiff aus abgeschossen worden, weil sie die Amerikaner mit einem Kampfflugzeug verwechselten. Lebt in Cyrus das Trauma eines zum Halbwaisen gewordenen Säuglings fort? Und wer, wenn nicht eine sehr berühmte Konzeptkünstlerin, ist nun diese Orkideh, die er im New Yorker Brooklyn-Museum kennenlernt, weil sie dort, in einer an die Arbeiten von Marina Abramović erinnernden Gesprächsperformance (“Death Speak”), das eigene Sterben am Krebs inszeniert, und zwar bis zum bitteren Ende? Auch deutsche Leser sollten dieses schillernde Scherbenmosaik zusammensetzen, es ist ein rührendes und spannendes Vergnügen – kein Wunder, dass der Roman in den USA frenetisch gefeiert wurde. Unsere Nachrichtenlage (Trump, Netanjahu, die Mullahs) braucht eine Literatur, die das Leben feiert und nicht den Tod. Auf Seite 292: der schönste Zungenkuss aller Zeiten. Das Ausrufezeichen im Romantitel: pure Ironie.

Kaveh Akbar: Märtyrer! Rowohlt, Hamburg 2025; a. d. Engl. von Stefanie Jacobs; 400 S., 24,– €, als E-Book 19,99 €

Back to top button