Maria Terwiel kämpfte gegen Hitler | ABC-Z
Sie ist 33. Eigentlich promovierte Juristin, verliebt und verlobt. Dann wird sie angeklagt, verurteilt, enthauptet. Eine Frau, die in einem Regime, das viele entmenschlichte, nichts anderes tat, als Mensch zu bleiben. Maria Terwiel.
„Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ gab es viele; ihre Schicksale waren bis vor Kurzem jedoch weithin unbekannt. Der Deutsche Bundestag wollte das 2019 ändern; er ermöglichte ein Forschungsprojekt und eine gleichnamige Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.
Die Ausstellung, die gerade einige Monate dort zu sehen war und die „die gesamte soziale Breite und weltanschauliche Vielfalt des Widerstands gegen das NS-Regime“ zeigt, soll bald auf Wanderung gehen. „Anfragen haben wir jede Menge“, sagt Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte. Terwiel war eine von denen, deren Biographien erzählt wurden. An ihrem Schicksal, so Tuchel, zeigt sich „die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert wie in einem Brennglas“.
Die Familienmitglieder erzählen über Maria Terwiel
Tuchel kennt sich aus mit ihrer Geschichte, hat mit der einzigen direkten Überlebenden der Familie, Marias jüngerer Schwester Ursel, vor deren Tod zahlreiche Interviews geführt und Aufsätze über Maria Terwiel und ihren Verlobten Helmut Himpel verfasst. Weitere Auskünfte über Maria Terwiel können die einzigen noch lebenden Verwandten geben: der Großneffe Benedikt Terwiel und dessen Mutter Brigitte. Redet man mit ihnen, wird klar, woraus sich Marias Kraft zum Widerstehen speiste.
Sie wird 1910 in eine liberale, großbürgerliche Familie am Rhein hineingeboren. Ihr Vater, Johannes Terwiel, ist hoher Beamter der preußischen Provinzialverwaltung, zudem Katholik und Sozialdemokrat. Ihre Mutter Rosa Terwiel ist Jüdin, konvertiert aber kurz vor der Heirat mit Johannes zum Katholizismus.
Die Familie zieht, als der Vater Vizepräsident des Oberpräsidiums von Pommern wird, nach Stettin, wo Maria die Oberprima besucht. Der Glaube spielt in ihrer Familie eine große Rolle. Maria Terwiel wird, wie auch ihre jüngeren Geschwister Gerd und Ursula, umfassend im Christentum erzogen, ohne dabei jedoch streng religiös zu leben.
Sie schreibt eine Dissertation
Ihre Jugend ist unbeschwert. Von 1931 an studiert sie Jura, erst in Freiburg, später in München, und lernt dort ihren späteren Verlobten kennen. Sie gilt als talentierte Studentin, schreibt eine Dissertation über „Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken, insbesondere die Pfandklausel“.
Schon hier zeigt sich der emanzipative Charakter Terwiels, wie die Angehörige Brigitte festhält: „Sie hat sich über vieles hinweggesetzt, hat in dieser Zeit in einer anderen Stadt studiert. Später hat sie sich als Halbjüdin mit einem Arier verlobt.“ Die Dissertation liegt 1935 zur Abgabe bereit, doch die im gleichen Jahr erlassenen Rassegesetze verhindern, dass die „Halbjüdin“ Terwiel eine Stelle als Referendarin antreten kann. Ihr Vater verliert seine Arbeit und wird in den einstweiligen Ruhestand versetzt, was der Familie auch finanziell zusetzt.
Terwiel gibt das Studium auf, kehrt zu ihrer Familie nach Berlin zurück und arbeitet dort für ein Textilunternehmen. „Deshalb taucht ja auch später immer wieder bei der Berufsangabe nicht ‚Juristin‘ auf, sondern ‚Stenotypistin‘ oder manchmal sogar ‚Sekretärin‘“, sagt Tuchel, was „natürlich gar nicht ihrer Qualifikation entspricht“. Für ihren Bruder Gerd muss die Familie jedes Semester neue Sondergenehmigungen beantragen, damit er als „Halbjude“ sein Studium fortsetzen kann.
Kontakt zu Oppositionellen
Marias Verlobter Helmut Himpel eröffnet in Berlin-Wilmersdorf eine Zahnarztpraxis. Hier lebt das Paar nach der Verlobung seit 1940 zusammen. In einer Zeit, in der das Regime ihre Freiheiten immer weiter beschneidet und dann schließlich den Zweiten Weltkrieg lostritt, kommen Terwiel und Himpel über einen Patienten, den Journalisten John Graudenz, in Kontakt zu der Gruppe Oppositioneller um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, der von der Gestapo den Fahndungsbegriff „Rote Kapelle“ bekommt.
In dieser Gruppe organisieren Schulze-Boysen und Harnack Widerstandsaktionen und geben Informationen über den Kriegsplan der Nazis, an die Schulze-Boysen als Oberleutnant im Reichsluftfahrtministerium kommt, an den sowjetischen Auslandsnachrichtendienst weiter.
Maria Terwiel verbreitet Schriften und Flugzettel, vor allem im Winter 1941/42 und im Frühjahr 1942, und verschickt Flugschriften gegen den Krieg und die nationalsozialistische Diktatur in ganz Deutschland. Bedeutsam sind hier vor allem die berühmten Juli- und August-Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen, in denen dieser sich gegen die von den Nazis euphemistisch „Euthanasie“ genannte massenhafte Ermordung körperlich und geistig Behinderter wendet. Terwiel verbreitet sie und trägt so dazu bei, dass Hitler auch infolge der Predigt vom 3. August 1941 die „Aktion T4“ stoppt.
Bedeutsam ist ebenfalls die Verbreitung mehrerer Hundert Exemplare der Flugschrift „Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk“ von Schulze-Boysen und John Sieg aus dem Februar 1942, die Terwiel zusammen mit anderen an in Berlin ansässige Auslandskorrespondenten schickt. Auch führende Personen der Nazi-Bürokratie schreiben sie an, deren Kontakte sie in öffentlichen Telefonbüchern und Fernsprechbüchern der Wehrmacht finden.
„Bei Marie hieß es, den Kopf hoch halten“
Außerdem unterstützt Terwiel in Berlin untergetauchte Juden; sie versorgt sie mit Lebensmittelkarten und Ausweisen. Im Mai 1942 nimmt sie an einer Klebeaktion teil, die sich gegen die antisowjetische Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“ richtet. Auf den Zetteln steht: „Das Naziparadies – Krieg – Hunger – Lüge – Gestapo – wie lange noch?“ Mehr als 80 Zettel klebt Terwiel in der Nacht zum 18. Mai 1942 vor allem auf dem Kurfürstendamm.
Entdeckt und festgenommen wird sie Mitte September. Zuvor hatte die Deutsche Abwehr einen Funkspruch des sowjetischen Militärgeheimdienstes GRU von Moskau nach Brüssel dechiffriert, in dem gegen alle Regeln der Konspiration Schulze-Boysens Name und Adresse genannt worden waren. In der Folge werden Schulze-Boysen, Maria Terwiel und Helmut Himpel sowie knapp 120 andere Widerstandskämpfer festgenommen.
Im Gefängnis, lange Zeit in Einzelhaft, erkrankt Terwiel schwer. Erst im Dezember 1942 bekommt sie die polnische Widerstandskämpferin Krystyna Wituska als Zellengenossin, mit der sie bald eine herzliche Freundschaft verbindet. In einem Brief schreibt Wituska 1943: „Sie hat mich gleich unter ihren Schutz genommen. Ich war […] von meinen polnischen Kameradinnen das erstemal [sic] getrennt, erschrocken und dem Weinen nahe. Aber bei Marie hieß es gleich, den Kopf hoch halten.“
Zeugnis für Terwiels Glauben
Am 26. Januar 1943 wird Terwiel mit Himpel und weiteren Angeklagten „wegen Hochverrat und Feindbegünstigung“ vor dem Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt. Ihr Anwalt wird Terwiel zum Verhängnis, weil er Belastendes gegen sie hervorholt, das nicht mal die Anklage erwähnt hatte. Terwiel wird am 5. August 1943 in der Hinrichtungsstätte in Berlin-Plötzensee enthauptet. Himpel hatte dieses Schicksal bereits drei Monate zuvor ereilt. Ihre Mutter und ihr Bruder sterben bei einem Bombenangriff. Kurz vor ihrer Hinrichtung schreibt Terwiel ein Gedicht an ihre polnischen Mitgefangenen. Darin heißt es an einer Stelle:
„Doch lebten sie frei und heiter, das Schicksal bezwang sie nicht. Vielleicht geht das Leben doch weiter! Kleinkriegen tun sie uns nicht.“
Solche Dokumente aus der Zeit im Gefängnis bezeugen Terwiels Glauben. Noch lange Zeit nach dem Krieg wurde die Rote Kapelle als rein kommunistisch oder als russisches Spionagenetzwerk diffamiert. Dies und das Urteil des Landesverrats gegen ihre Schwester habe Ursel als tiefe Ungerechtigkeit empfunden, sagt Brigitte Terwiel. Das habe auch dazu geführt, dass Ursel kaum über das Leben in Hitlerdeutschland gesprochen habe. Wie Tuchel festhält, kamen Terwiel und Himpel nicht zum Widerstand, „weil ihnen die Nürnberger Gesetze ein gemeinsames Leben verboten oder weil sie sich in ihrem äußeren Leben eingeschränkt fühlten“, sondern „aus tiefer christlicher Überzeugung gegen ein System, dessen verbrecherischen Charakter sie erkannt hatten“.