„Man muss ein bisschen verrückt sein“ | ABC-Z
Man kann natürlich einfach sagen: Die Leute sind irre! Konsumsüchtig! Haben nichts Besseres zu tun! Außerhalb der Schlange sagt sich das leicht. Außerhalb der Schlange ist man Opfer seiner Überzeugung, dass man niemals für irgendetwas stundenlang anstehen würde. Aber außerhalb der Schlange ist man auch nicht Teil dessen, was kommt. In diesem Fall: dreieinhalb Stunden darauf zu warten, dass man Zucker, Fett und viel Verpackung in der Hand hält – 150 Gramm Dubai-Schokolade von Lindt für 14,99 Euro.
Also natürlich: Die Leute sind irre. Für alle, die etwas von Marketing verstehen, zwar im besten Sinne. Aber wer stellt sich morgens stundenlang an, bis die Lindt-Filiale in Frankfurt an diesem Dienstag von zehn Uhr an eine vermeintlich besondere Schokolade verkauft? Die Antwort ist banal: Ungefähr 30 Leute sind es um 8.06 Uhr, und so ganz irre fühlt sich mindestens die Hälfte von denen dann doch nicht, als sie hören, seit wann die Frau ganz vorne in der Reihe dort ausharrt: 2.30 Uhr.
Es ist eben alles eine Frage der Perspektive. Außerhalb der Schlange sind die Radfahrer wütend, weil die Menschen, gegen 8.45 Uhr sind es schon 70, nicht so ganz wissen, wohin mit sich, und dann den Radweg nehmen. Außerhalb der Schlange stehen Arbeitnehmer, die sich nur schnell nebenan einen Kaffee holen wollten und kurz zucken, weil sie die Schlange für die zum Bäcker halten.
„Auch wenn das eigentlich gestört ist“
In der Schlange ist alles anders. In der Schlange ist man bereit. Die Frau, die seit 2.30 Uhr ansteht, heißt Farah, ist 30 Jahre alt, aus Schotten rund eine Stunde lang angereist und hat die Nacht durchgemacht. Mit Partner steht sie hier. Eigentlich wollte sie alleine kommen. Aber Farah in der Nacht allein in Frankfurt, das wollte der Partner dann nicht verantworten. Sie habe die Dubai-Schokolade auch schon selbst gemacht, aber wenn Lindt eine mache, mit „so einer guten Schokolade und so einer guten Füllung“, dann müsse man die probieren. „Auch wenn das eigentlich gestört ist.“ Aber sie will das „ultimative Urteil“: Welche Dubai-Schokolade ist die beste?
In der Schlange ist eben alles anders. Vor allem ist es ziemlich kalt. Aber nicht nur Farahs Partner ist selbstlos hier. Da ist zum Beispiel der Grieche, der seinen Sohn überraschen will. In der Schlange wächst man zusammen. Da ist ein Kerl, der den Griechen fragt: „Wollen Sie auch Tee?“ Ein dritter, der spontan mit seiner Freundin gekommen ist. Sie hätten geschaut, wie lange die Schlange ist und dann gesagt: „Wir haben keine Termine, ok, wir machen’s!“ Zwei Praktikantinnen, die für einen Lebensmittelkonzern die Konkurrenz ausspionieren sollen. Ein Mann hat einen Campingstuhl mitgebracht, eine ältere Frau einen ausziehbaren Stuhl. „Man muss ein bisschen verrückt sein“, sagt sie. „Sonst ist das Leben zu langweilig.“
100 Tafeln jeden Tag
Ja, in der Schlange ist alles anders. Mehrmals gibt es Pistazien-Lindt-Kugeln und heiße Schokolade, die Lindt-Mitarbeiter filmen, das Unternehmen führt ein Lehrstück des Marketings auf. Rund 200 Leute stehen kurz vor Öffnung an, ein (nicht von Lindt engagierter) Tiktoker zählt den Countdown. Dann darf eine Handvoll Leute rein und endlich kaufen, was die Food-Influencer seit Monaten auf Tiktok hoch und runter probieren: Schokolade gefüllt mit Pistazienmark, Tahini und crunchigen Teigfäden, Kadaifi oder Engelshaar genannt und aus der arabischen Küche bekannt.
Die Lindt’sche Version besteht laut Zutatenliste zu neun Prozent aus Pistazien, Lindt verkündet öffentlich lieber nur den Anteil Pistazien in der Füllung: 24 Prozent, klingt auch viel besser. 100 Schokoladen soll Lindt an diesem Morgen ausgeben. Am Samstag ging es in Düsseldorf los, am Montag in Berlin, und auf Frankfurt folgen noch Hamburg, Aachen, Stuttgart und Köln sowie München, Leipzig und Dresden.
„Schlimmer als jeder Klub“
Keine der Zutaten ist unbekannt. Es ist die Kombination, die dazu führte, dass in Düsseldorf eine Autoscheibe eingeschlagen wurde, offenbar um das kostbare Gut rechtswidrig an sich zu reißen, und dass die Schokolade auf Kleinanzeigen zwischenzeitlich für 2900 Euro (VB!) – zumindest in Göttingen – zu bekommen war.
Es ist auch eine Kombination an Zutaten, um deren markenrechtlichen Schutz sich die Unternehmen schon streiten. Wie „Bild“ berichtet, will das Unternehmen Alina Wilmers Verwaltungs GmbH rechtliche Schritte gegen Unternehmen einlegen, die solch eine Schokolade nicht in Dubai produzieren. Der Markenanwalt Oliver Löffel sagt der F.A.Z. dazu, er sehe keinen irreführenden Herkunftsbezug im Namen der Schokolade, vielmehr einen Hinweis auf eine spezifische Rezeptur im Sinne eines „Styles“. Es gebe die Chance für Unternehmen wie Lindt, einen solchen Rechtsstreit zu gewinnen.
In der Schlange ist man weit entfernt von solchen Auseinandersetzungen. Unmut zeigt sich nur, weil es auch nach zehn Uhr nicht wirklich vorangeht. „Schlimmer als jeder Klub“, sagt der Mann, der sich mit seiner Freundin mangels Terminen angestellt hat. Ans Gehen denkt trotzdem niemand. Farah hatte sowieso keine Angst, enttäuscht zu werden. „Dann hat es sich trotzdem gelohnt, denn ich hatte einen schönen Abend mit meinem zukünftigen Mann.“ Er schaut etwas gequält. In der Schlange ist eben alles anders.