Zugunglück bei Garmisch-Partenkirchen: Hätte Tempo 20 den Fahrgästen das Leben retten können? – Bayern | ABC-Z

Am 1. Juni 2022, zwei Tage vor dem verheerenden Zugunglück in Garmisch-Partenkirchen mit fünf Toten und viel Verletzten, hätte sich die Tragödie noch verhindern lassen. An diesem Tag lief eine Frist für den Austausch von mehreren besonders stark geschädigten Betonschwellen ab. Und das genau in jenem Streckenabschnitt, in dem dann ein Regionalzug auf dem Weg nach München bei 100 Stundenkilometern entgleiste.
Bereits acht Monate hatte ein Beschäftigter aus der für das Schienennetz zuständigen Bezirksleitung der Deutschen Bahn schriftlich festgelegt, was zu tun sei. Die schadhaften Schwellen müssten unbedingt ersetzt werden. Falls das nicht geschehe, dürften die Züge diesen Abschnitt vom 1. Juni 2022 an vorsichtshalber nur noch mit 20 Stundenkilometern passieren. Doch weder das eine noch das andere geschah. Die Staatsanwaltschaft ist bei ihren Ermittlungen zu einem aus ihrer Sicht eindeutigem Ergebnis gekommen. Dass eine Streckensperrung oder eine Langsamfahrstelle unterblieben seien, habe das Unglück ausgelöst. Hätten die Angeklagten ordnungsgemäß gehandelt, wären die „Folgen für Leben und Leib“ der Toten und Verletzten unterblieben.
An diesem Dienstag hat am Landgericht München II der Prozess um das Zugunglück begonnen. Zwei Eisenbahner aus der Region Garmisch-Partenkirchen sind wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung angeklagt. Nach einigen Formalien hat zuerst die Staatsanwaltschaft das Wort, die ihre 56-seitige Anklage auszugsweise vorträgt. Nach der Beschreibung des Unfallhergangs folgt im Detail, was den Todesopfern und den vielen Verletzten bei dem Unfall widerfahren ist. Es ist eine lange Liste; eine teils sehr furchtbare Liste, die Aufschluss darüber gibt, wie schlimm das war, was sich damals in Garmisch-Partenkirchen ereignet hatte.
Die Anklageschrift und ein interner Untersuchungsbericht der Deutschen Bahn geben aber auch Aufschluss darüber, was bei der Bahn über viele Jahre hinweg alles schieflief, bis kurz vor dem Unglück. Die beiden Angeklagten, ein Strecken-Verantwortlicher und ein Fahrdienstleiter, werden in beiden Dokumenten schwer belastet. Es gilt aber die Unschuldsvermutung. Das Gericht muss erst herausfinden, ob bei der Bahn jemand für den Unfall strafrechtlich belangt werden kann.
Der Fall ist kompliziert. Das zeigt sich alleine schon an den Schwellen, die bis zum 1. Juni 2022 unbedingt ausgetauscht werden sollten. Das waren nämlich gar nicht jene Schwellen, die zwei Tage später auseinanderbrachen und den Regionalzug entgleisen ließen. Wie das juristisch zu bewerten ist, bleibt abzuwarten. Aber bezeichnend für jahrelange Missstände beim Staatsunternehmen Deutsche Bahn ist dieser Vorgang allemal.
Jene Schwellen, die bis Anfang Juni 2022 eigentlich ausgetauscht werden sollten, stammten von einer Firma, die schon früher wegen gravierenden Mängeln aufgefallen war. Auch an der späteren Unfallstelle in Garmisch-Partenkirchen. Dort entdeckte die Deutsche Bahn bereits im August 2015 mehrere Schwellen dieser Firma, die nach den damals gültigen Regeln binnen eines Jahres hätten ausgetauscht werden müssen. So steht es im internen Untersuchungsbericht der Bahn, der von der Anwaltskanzlei Gleiss Lutz stammt.
Personal- und Geldmangel: Schadhafte Schwellen sollen jahrelang im Gleis gelegen haben
Dem Gleiss-Lutz-Report zufolge lagen im Juni 2022, zum Zeitpunkt des Unglücks, in diesem Streckenabschnitt immer noch Schwellen, die schon Jahre zuvor hätten ausgewechselt werden müssen. Stattdessen war dies wiederholt verschoben worden. Wegen Personalmangel, wegen Geldmangel, oder weil keine Baufirma verfügbar gewesen sei. So ist das bei der Bahn intern dokumentiert; nachzulesen bei Gleiss Lutz. Der regionale Strecken-Verantwortliche, der jetzt vor Gericht steht, soll den Schwellentausch mehrmals aufgeschoben und irgendwann ganz aufgegeben haben.
Und auch bei den Schwellen einer anderen Firma, bei jenen Schwellen, die das Unglück schließlich auslösten, soll dieser Strecken-Verantwortliche der Anklageschrift zufolge wiederholt ein Auswechseln verschoben haben. Über zwei Jahre hinweg und zuletzt zehn Tage vor dem Unglück. Und mit diesem letzten Aufschub um gleich mehrere Monate auf den Oktober 2022 soll der Angeklagte gegen das interne Regelwerk der Bahn verstoßen haben. Gleiches soll vorher schon an anderer Stelle geschehen sein.
In der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ist das akribisch dokumentiert. Ebenso wie eindringliche interne Warnungen des angeklagten Strecken-Verantwortlichen. Zum Beispiel der Hinweis vom 31. Mai 2022, also drei Tage vor dem Unfall, es müsse „schnellstmöglich“ etwas geschehen. Eine zentrale Frage beantwortet die Anklageschrift allerdings nicht. Wie kann es sein, dass ein Eisenbahner vor Ort mehrmals eine eigentlich überfällige Reparatur an der Strecke verschiebt, ohne dass im System Bahn ein Alarm ausgelöst wird? Ohne dass vorgesetzte Stellen eingreifen und Maßnahmen wie eine Langsam-Fahrstellen oder gar eine Streckensperrung veranlassen?
:Nachrichten aus der Bayern-Redaktion – jetzt auf Whatsapp abonnieren
Von Aschaffenburg bis Berchtesgaden: Das Bayern-Team der SZ ist im gesamten Freistaat für Sie unterwegs. Hier entlang, wenn Sie Geschichten, News und Hintergründe direkt aufs Handy bekommen möchten.
Fehlte in der Bahn das klassische Vier-Augen-Prinzip, also eine interne Kontrolle durch mehrere Personen und Instanzen? Und das insbesondere dann, wenn es darum ging, einen sicheren Zugbetrieb zu garantieren? Der Anklageschrift zufolge kannten Kollegen des Angeklagten den kritischen Zustand der späteren Unfallstelle. Ein Eisenbahner soll den Angeklagten früher sogar angewiesen haben, Fristen gewissenhafter einzuhalten. Auch das steht in der Anklageschrift.
Der interne Untersuchungsbericht der Bahn wiederum gibt Aufschluss darüber, was alles schief lief im Staatsunternehmen. Serienschäden an Betonschwellen waren vor dem Unglück schon viele Jahre bekannt. In großem Stil wurden Schwellen aber erst nach dem Unfall ausgewechselt. Vorher geschah wenig bis nichts. Anfang 2022 bat ein Strecken-Verantwortlicher für das Netz München intern um einen „fachlichen Rat“, was es mit Schwellen jener Firma auf sich habe, die später das Unglück auslösten.
Er habe diesen Rat „bis zum Unfall nicht“ erhalten, heißt es im Gleiss-Lutz-Report. Fünf Monate wären demnach ergebnislos verstrichen. Und noch etwas steht bei Gleiss Lutz: Mehrere Bahn-Verantwortliche im Regionalbereich Süd sollen sich darüber unterhalten haben, dass im Netz München in „nennenswertem Umfang“ schadhafte Schwellen dieser Firma aufgetaucht seien. Das Datum dieser Unterredung: der 2. Juni 2022, ein Tag vor dem Unglück.





















