Mailand-Derby in der Serie A: Der destruktive Fußball in Italien wird zum Problem – Sport | ABC-Z

Die Geschichte dieses Mailänder Derbys muss mit Mike Maignan beginnen. Der Franzose ist ein brillanter Torhüter, Nachfolger des Weltmeisters Hugo Lloris in der Nationalmannschaft und seit Jahren ein sicherer Rückhalt im Tor der AC Milan. Am Sonntagabend hielt Maignan in dieser Funktion in der 74. Minute einen Elfmeter von Hakan Calhanoglu und hatte davor bereits herausragend zwei Abschlüsse von Inter Mailand abgewehrt. Milans letzter Mann entschied dieses Prestige-Duell gegen Inter, das dank seiner Paraden 1:0 für Milan endete.
Am Derby della Madonnina lässt sich traditionell nicht nur das fußballerische Klima der Stadt Mailand, sondern auch das der ganzen Serie A ablesen lässt. Was allerdings zu einem Problem führt, denn Milans Torhüter steht für manches, was im Großen in dieser Spielzeit in Italien schiefläuft.
:Langweilig? Wird es mit ihm nie
Ist er der erfolgloseste Trainer des Jahres? Ivan Juric wird im italienischen Fußball so häufig entlassen, dass sein Wirken kuriose Züge annimmt – auch Mats Hummels hatte schon mit ihm zu tun.
Mike Maignan nämlich ist ein brillanter Verhinderer. Er verhindert qua Amt Tore, wozu ihm die Gazzetten des Landes wöchentlich gratulieren, am Montagmorgen waren sie besonders euphorisch. Er verhindert allerdings auch gerne den Spielfluss. Nicht nur, weil ihm im Passspiel die fußballerischen Qualitäten eines Manuel Neuer fehlen, sondern auch, weil er Tempo ganz grundsätzlich ablehnt. In der ersten Hälfte des Derbys etwa, beim Stand von 0:0, gab es eine exemplarische Szene, in der Maignan völlig grundlos 49 Sekunden benötigte, um nach einem Schuss des Gegners den eigenen Abstoß auszuführen.
Zeitspiel in der ersten Halbzeit beim Stand von 0:0, auch das ist ein Stilmittel des Fußballs. Es kommt wahrlich nicht allzu oft vor in den Topspielen der besten Ligen Europas, Neuer etwa steht bei Duellen zwischen dem FC Bayern und Borussia Dortmund höchst selten unter Verschleppungs-Verdacht. In der Serie A allerdings ist es Teil einer Kultur, die von vielen Übungsleitern propagiert wird. Und derzeit problematische Züge annimmt.
In der Serie A fallen in dieser Spielzeit kaum mehr als zwei Tore pro Partie
Maignan nämlich erhält die Vorgabe zu diesem Verhalten – wie der Rest seiner Mannschaft – von seinem Trainer Massimiliano Allegri. Der ist Anhänger einer Fußballphilosophie, die in der Passivität einen großen Wert sieht. Während seiner sehr erfolgreichen Zeit bei Juventus Turin, als Allegri im Piemont einen unnahbaren Serienmeister trainierte, sagte er vor einem Champions-League-Spiel gegen den FC Barcelona einmal: „Ich freue mich für alle, die Fußball zu einer Show machen können. Aber wenn du eine Show sehen willst, solltest du meiner Meinung nach lieber in den Zirkus gehen.“
Dieser Herangehensweise hat Allegri nie abgeschworen, im Gegenteil: „In den letzten zehn Jahren hat nur einmal die Mannschaft mit der zweitbesten Defensive den Scudetto gewonnen“, verkündete er nach seinem Wechsel zurück nach Mailand vor der Saison, er folgt dieser Strategie seither nachhaltig. Rein mathematisch betrachtet, hat der Mister damit natürlich recht. Fußballphilosophisch trifft er auf Widerstand.

Die wenigsten Tore in Europas Top-5-Ligen fallen in dieser Saison in der Serie A, es sind kaum mehr als zwei pro Spiel. Selbst für eine Liga, die sich traditionell der Struktur und einer gewissen Liebe zum Verteidigen hingegeben hat, ist das ein niedriger Wert. Besonders markant trat die Problematik vor einigen Wochen am siebten Spieltag hervor, als in zehn Spielen ganze elf Tore fielen und im Calcio-Magazin Ultimo Uomo die Frage aufgeworfen wurde: „Wenn wir die Perfektion erreichen – also zehn Spiele ohne Gegentreffer –, werden wir uns dann alle in die Arme fallen?“
Die Antwort lautet natürlich: Nein. Seit Wochen schon berichten italienische Medien zunehmend kritisch über die fehlenden Tore; vor allem aber über die fehlende Ambition in der Herangehensweise vieler Mannschaft in der Serie A. Auf niedrigem Niveau mag das noch verständlich sein, wenn die Möglichkeiten limitiert sind; eine Hurra-Variante nach dem Modell von Sandro Wagner beim FC Augsburg existiert in Italien nicht. Auf hohem Niveau zeigt sich jedoch ein gewisses Muster, das den Verhinderern um Allegri und Maignan recht gibt.
Manche Italiener fragen sich: Warum lässt sich Defensive nicht mit einer aktiven Spielweise verbinden?
Diejenige Mannschaft aus Spitzengruppe der Serie A, die weiterhin trotzig versucht, mit einem bewusst proaktiven Ansatz erfolgreich zu sein, verlor am Sonntag das Derby. Bei Inter haben sie auch nach dem grotesk verlorenen Champions-League-Finale, einer verspielten Meisterschaft und dem Abschied des taktischen Revolutionärs Simone Inzaghi den grundsätzlichen Weg beibehalten: Unter Christian Chivu hat Inter die meisten Abschlüsse in der Liga, den mit großem Abstand höchsten Wert bei erwarteten Toren und die meisten erzielten Tore. Jedoch nun als Viertplatzierter bereits drei Punkte Rückstand in der Tabelle.
Nicht nur das 0:1 im Derby steht in den Büchern, auch ein 1:3 gegen die SSC Neapel von Antonio Conte, dem anderen großen Trainer, der Spektakel ablehnt und den Wert der Passivität wie ein Heiligtum verteidigt. Um genau diesen Unterschied nämlich geht es, er beschäftigt die Liga: Warum lässt sich Defensive nicht – wie im Rest Europas, unter anderem beim FC Bayern – mit einer aktiven Spielweise verbinden? Solange Allegri, Conte und ihre destruktive Schule den Ton der ganzen Liga angeben, wird der Fußball der Serie A keinen Aufschwung erleben. Ganz im Gegenteil: Die anhaltende Krise der Nationalmannschaft erklären sich manche ebenfalls mit der grundsätzlich falsch gelehrten Philosophie in den Fußballschulen.
Es bleibt für die italienische Liga nur die Hoffnung, dass die Aktiven am Ende doch belohnt werden. Chivus Inter musste am Sonntag zwar erneut einen Rückschlag erleiden, durch die Hände Maignans und die Struktur Allegris. Doch nur eineinhalb Autostunden vom San Siro entfernt, in Cremona, ergab sich zuvor am Nachmittag ein etwas anderes Bild.
Dort gewann die AS Rom mit 3:1 gegen Cremonese und wurde zum Tabellenführer. Die Römer haben die wenigsten Gegentore der ganzen Liga kassiert und sind trotzdem ein Widerpart zu Allegri und Conte. Sie werden seit dem Sommer trainiert von Gian Piero Gasperini, dem Tüftler, der in neun Jahren bei Atalanta Bergamo zu einem der Revolutionäre des Fußballgeschäfts wurde. Zu einem Propheten, dessen Gedanken sich in ganz Europa verbreiteten, nur nicht im eigenen Land: „Vor Jahren schon habe ich an bestimmte Ideen geglaubt, die heute viel verbreiteter sind“, sagte Gasperini vor einiger Zeit: „Vor allem daran, dass Angriff die beste Verteidigung ist.“





















