Politik

Magdeburg nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt | ABC-Z

Die Innenstadt von Magdeburg ist hell erleuchtet am Freitagabend. Nur sind es nicht diejenigen Lichter, die dort vier Tage vor Heiligabend eigentlich leuchten sollten. Die sachsen-anhaltische Landeshauptstadt ist in ein Meer aus Blaulichtern getaucht. Eine dreistellige Zahl von Rettungswagen, Feuerwehrautos, Einsatzfahrzeugen der Polizei, des Technischen Hilfswerk und des Katastrophenschutz ist aus der gesamten Region herbeigeeilt. Über der Szenerie kreist ein Hubschrauber. „Ist ein einziges Blaulichtgewitter hier in der Stadt“, raunt ein Sanitäter seinem Kollegen zu. Nach ihrem Einsatz dürfen sich die Einsatzkräfte an einer Verpflegungsstation mit einer heißen Suppe, einer Wurst und einer Scheibe Toast stärken.

Noch immer stehen rund um den Tatort vermummte Polizisten mit Maschinenpistolen vor den Absperrbändern. Noch immer rast ein Rettungswagen nach dem nächsten mit Blaulicht in Richtung Krankenhaus. Mindestens sechzig Verletzte und zwei Tote, einen Erwachsenen und ein Kleinkind, habe es gegeben, lautet der Zahlenstand zu diesem Zeitpunkt.

Am frühen Abend war ein Mann mit einem BMW mit Münchner Kennzeichen, den er offenbar gemietet hat, in den Magdeburger Weihnachtsmarkt gerast. Im Internet kursiert ein Video, auf dem zu sehen ist, wie der Wagen mit hoher Geschwindigkeit durch die Menschenmenge pflügt, die sich zwischen den Ständen vor dem Rathaus versammelt hat. Auf einem verifizierten Video ist die Festnahme des Mannes durch die Polizei zu sehen. „Leg Dich hin, leg dich hin! Die Hände auf den Rücken! Die Hände!“, ruft ein tapferer Polizist mit gezogener Waffe. Dann warnt er seine herbeieilenden Kollegen, dem Mann bloß nicht zu nahe zu kommen.

Festgenommener passt nicht ins Dschihadisten-Profil

Wie sich später herausstellt, handelt es sich bei dem Festgenommenen um einen 50 Jahre alten Mann aus Saudi-Arabien. Der mutmaßliche Täter, Taleb Al A., fügt sich aber so gar nicht in das Profil eines Terroristen und Dschihadisten wie Anis Amri, der exakt acht Jahre und einen Tag zuvor mit einem Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplast raste und 13 Personen tötete. Taleb Al A. ist nicht so eine gescheiterte Existenz wie Anis Amri, sondern ein Facharzt für Psychotherapie aus dem 50 Kilometer weit entfernten Bernburg. Dort kommen noch am Abend schwer bewaffnete Polizisten zum Einsatz.

Taleb Al A. hält sich seit knapp 20 Jahren in Deutschland auf. Nach Angaben von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff, der am Freitagabend in die Magdeburger Innenstadt eilte, ist Taleb Al A. nicht als Islamist auffällig geworden. Das Profil des mutmaßlichen Täters auf der Plattform X deutet eher in die gegenteilige Richtung. Taleb Al. A. folgt dort vom Islam abgefallenen und zum Christentum konvertierten Personen sowie erklärten Atheisten. Vor einiger Zeit retweetete er auch ein Lob für die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel.

„Germany wants to islamize Europa“ steht in seinem Account auf X, der mehr als 40.000 Follower hat. Die hohe Zahl deutet darauf hin, dass er in der Szene der saudi-arabischen Opposition, zu der er sich zählt, ein gewisses Standing besitzt. Taleb Al A. hat in der Vergangenheit zugleich aber auch Tweets abgesetzt, die rätselhaft bis wirr wirken. Manche deuten auch darauf hin, dass von ihm eine Gefahr ausgehen könnte. Und sein Profilbild bei Twitter besteht aus einer automatischen Handfeuerwaffe.

Kein Sprengsatz, kein zweiter Täter

Nach der Festnahme von Taleb Al A. gibt es zunächst auch keine Entwarnung in Magdeburg. Die Polizei muss zunächst ausschließen, dass es neben ihm noch weitere Täter gibt. Und es besteht der Verdacht, dass Taleb Al A. in seinem BMW einen Sprengsatz deponiert haben könnte. Erst später am Abend teilt Ministerpräsident Reiner Haseloff mit, dass es sich um ein Einzeltäter handelte und dass keine weitere Gefahr bestehe. „Das ist eine Katastrophe für die Stadt Magdeburg und für das Land und auch generell für Deutschland“, klagt der CDU-Politiker. Haseloff dankt den Einsatzkräften und dem medizinischen Personal, das zu diesem Augenblick in den Kliniken der Region um das Leben der Schwerverletzten kämpft.

Der Weihnachtsmarkt selbst wird am Abend zu einer surrealen Stätte. Die Straßen ringsum flimmern im Blaulicht der Einsatzfahrzeuge. Doch sobald man die Sperrgitter zum Markt passiert, auf die das Stadtmarketing unter anderem den Spruch „Magdeburg, du bist so geil“ drucken ließ, herrscht eine bleierne Stille und Dunkelheit zwischen den Ständen. Die Hütte mit „Santa’s Schokoladen-Früchten“ ist ebenso verlassen und verrammelt wie die Stände, an denen noch Stunden zuvor Würste und Glühwein in diversen Geschmacksrichtungen verkauft wurden. Das Riesenrad, bei dem Erwachsene für eine Fahrt sechs Euro zahlen und Kinder vier, steht und schweigt. Nur ein älterer Mann auf einem Fahrrad fährt durch Szenerie und sucht mit seinem funzeligen Licht nach übriggebliebenen Pfandflaschen.

Das Zentrum des Weihnachtsmarktes vor dem Rathaus, wo Taleb Al A. mit seinem Auto in die Menschenmenge raste, wird von Sicherheitskräften abgeschirmt. Hinter ihnen halten Kriminalpolizisten gerade eine Besprechung ab. Eine Ecke weiter bewacht niemand mehr den Tatort. Die Stände sind auch hier verrammelt, aber dennoch hell erleuchtet. Am Boden liegen Scherben. In der Gasse, durch die der Täter fuhr, liegen umgeworfene Bistrotische. Das Pflaster ist von Servietten übersät. Stumme Zeugen einer Tat, deren Motiv sich wohl erst in den nächsten Tagen erschließen wird, so es sich überhaupt erschließen lässt.

Sofort wird spekuliert

In den ersten Stunden nach der Tat gab es viele, die schon mehr zu wissen glaubten. In den sozialen Medien wurden sofort auf eine islamistische Motivation zurückgeschlossen. Selbst etablierte Medien meldeten vorschnell, dass es bereits elf Tote, womöglich sogar mehrere dutzend gebe.

In der Nähe des Tatorts ist ein weiterer Radfahrer unterwegs. Er spricht eine Gruppe von sechs Jugendlichen an, die unter dem Vordach des Galeria-Kaufhauses herumstehen. „Was ist hier eigentlich genau passiert?“, fragt er. „Terroranschlag“, antwortet einer der Jugendlichen. „30 Tote.“ Zwei Fahrzeuge seien durch die Menschenmenge gerast, berichten die jungen Männer. „Waren drei Täter – oder fünf Täter, da unterscheiden sich die Angaben.“

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