Mädchen leben hier nur als Sklaven – „Gute Ehe fängt mit Tränen an!“ | ABC-Z

Moskau. In Tadschikistan sind Mädchen oft ein unerwünschtes Schicksal – Männer bestimmen ihr Leben, von der Geburt bis zur Ehe.
Nosanins Kindheit muss ein Albtraum gewesen sein. „Als meine vierte Schwester geboren wurde, war das einfach schrecklich“, erzählt sie dem Portal Asia-plus. „Wir hatten Angst, unserem Vater zu begegnen und ein falsches Wort zu sagen. Papa wollte nichts von seiner jüngsten Tochter wissen. In den ersten sechs Monaten hat er sie nicht einmal angesehen. In diesen sechs Monaten wuchs sie ohne Namen auf, da ihre Eltern bereits einen Namen für einen Sohn ausgewählt hatten.“ Noisanins Makel: Sie war als Tochter geboren, nicht als Sohn.
Nosanin lebte in Chudschand, der zweitgrößten Stadt Tadschikistan. Eine Universitätsstadt, Textilproduktion gibt es hier, die Stadt ist ein Zentrum für Seidenverarbeitung. Chudschand liegt in Zentralasien, in einer archaischen, patriarchalen Gesellschaft. Söhne sind der ganze Stolz der Familie, Reichtum und die Altersvorsorge für die Eltern. Töchter sind nichts. Eine Schande, eine Belastung. Möglichst früh werden sie verheiratet. In ein Leben als Haushaltssklavin und Gebärmaschine. So hart kann man es formulieren.
Frauen als Last: Das Erbe patriarchaler Gewalt in Zentralasien
Nun also bekam Nosanins Mutter die vierte Tochter in Folge. Was hatte sie nicht alles versucht: Astrologen hatte sie befragt, Heiler, Mullahs, wen auch immer. Das Kind kam gesund zur Welt – aber wieder war es ein Mädchen. „Die Beziehung zwischen meinem Vater und meiner Mutter begann sich zu verschlechtern, als meine zweite Schwester geboren wurde“, so Nosanin. „Mein Vater wünschte sich sehnlichst einen Sohn und hatte schon im Voraus einen Namen für einen Jungen ausgesucht. Aber dann wurde das dritte Kind geboren, und wieder war es ein Mädchen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie er meine Mutter nur deshalb erniedrigt hat, weil sie nur Töchter zur Welt brachte.“ Seine ganze Wut ließ er an seiner Frau aus. „Das sind deine Töchter, nicht meine“, an diese Worte erinnert sich Nosanin.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Frauen haben weniger Rechte, schlechtere Arbeit, wenn überhaupt, werden misshandelt, vergewaltigt. Das ist in vielen Ländern so, besonders schlimm aber ist es in Zentralasien. Beispiel: März 2020, der Weltfrauentag. Wie an vielen Orten der Erde gingen auch in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek Frauen für ihre Rechte auf die Straße. Gruppen von Männern, teilweise maskiert, griffen die Frauen massiv an, verletzten auch Zuschauerinnen. Es war der blanke Hass. In Kirgistan gibt es ein zynisches Sprichwort: „Eine gute Ehe beginnt mit Tränen.“ Ala-Kachuu nennt sich eine gängige Praxis in Kirgistan. Was bedeutet: „Etwas nehmen und wegrennen“. Das „etwas“ meint Frauen. Und das Wort heißt: Brautraub. Klingt nach einem harmlosen Hochzeits-Spaß, ist aber eine grausame, manchmal tödliche Realität in der kirgisischen Gesellschaft.
Frauen haben weniger Rechte, schlechtere oder gar keine Arbeit, werden misshandelt, vergewaltigt. Das ist in vielen Ländern so, besonders schlimm aber ist es in Zentralasien.
© AFP | –
Zwangsheirat und Brautraub: Entführungen auf offener Straße
Das Muster ist so einfach wie gewalttätig. Es geht um Zwangsheirat. Will ein Mann eine bestimmte Frau heiraten, so entführt er, zumeist mit anderen Männern, seine zukünftige „Braut“ auf offener Straße. In vielen Fällen kennt die „Braut“ ihren zukünftigen „Ehemann“ gar nicht. Die Entführte wird in das Haus des Mannes gebracht und dann einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen. Schlafentzug, Bedrohungen, die zukünftige „Braut“ wird beschimpft. Dabei versuchen die anderen Frauen ihr den traditionellen Brautschleier anzulegen. Dies wäre das Einverständnis. Die Lage des Opfers ist oftmals aussichtslos. Eine Nacht mit einem fremden Mann in dessen Haus, die Ablehnung der Ehe, das wäre ein Stigma. Ein Zurück in die eigene Familie – unmöglich. Selbstmorde häufen sich. Noch heute werden nach verschiedenen Schätzungen zwischen 25 und 50 Prozent aller Ehen im Land auf diese Weise geschlossen.
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Wer aber ist schuld? Der Islam? Das wäre zu einfach. Die archaische Gesellschaft in Zentralasien ist muslimisch. Doch im Islam gibt es durchaus religiöse Handlungsweisungen, die erwähnen, dass Gott diejenigen ins Paradies aufnehmen wird, die Töchter haben und ihnen keinen Schaden zufügen, sie nicht erniedrigen und sie nicht ihren Söhnen vorziehen, meint der tadschikische Islam-Experte Abdulvohid Chimidow gegenüber dem Portal Novastan.org.
In Nosanins Schwangerschaft kommen alte Ängste wieder hoch
Wie aber ging es weiter mit Nosanin? Sie schloss die Schule mit Auszeichnung ab, ging gegen den Willen des Vaters an die Universität, arbeitete nebenbei und finanzierte ihr Studium. Und schämte sich für ihren Vater. „Als ich an der Universität gefragt wurde, wer mein Vater ist und was er beruflich macht, sagte ich allen, dass er Testpilot ist und vermisst wird.“ Eine glatte Lüge.

Heute ist Nosanin verheiratet. In ihrer ersten Schwangerschaft kamen die alten Ängste wieder hoch. Es wurde ein Mädchen. Dann die zweite Schwangerschaft. „Meine Ängste wurden immer stärker, es war unerträglich“, sagt sie. „Ich hielt es nicht mehr aus und ließ eine Ultraschalluntersuchung machen“ – ein Junge.
Nosanins Erkenntnis: „Seit meiner Kindheit sehnte ich mich nach der Liebe meines Vaters, träumte davon, dass er mich umarmt und mir sagt, wie sehr er mich liebt und auf mich stolz ist. Aber in meinen Erinnerungen gibt es keine solch schönen Momente.“ Nosanin ist keine Haushaltssklavin geworden. Sie arbeitet, unterstützt ihre Eltern finanziell. „Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen, und ich bin ihnen dankbar, dass sie mir das Leben geschenkt haben. Oft höre ich jetzt von meinem Vater, dass ich besser bin als zehn Söhne.“ Das ändert nur nichts.