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Der ungelöste Mord an Tristan Brübach | ABC-Z

Manchmal, sagt Uwe Fey, manchmal hat ein Mörder eben einfach Glück. Etwa wenn ein heftiger Regen Spuren wegspült, Schnee den Tatort verdeckt, sich für ein Verbrechen keine Zeugen finden, wenn Überwachungskameras ausfallen oder die Beweise aus Sicht des Richters am Ende einfach nicht ausreichen. Oder wenn ein Fall ungeklärt bleibt wie bei Tristan Brübach. Vor 27 Jahren wurde der 13 Jahre alte Junge in Frankfurt ermordet, eines der grausamsten Verbrechen seit Bestehen der Bundesrepublik. Es gibt einen blutigen Fingerabdruck und ein prägnantes Phantombild des mutmaßlichen Täters, die Polizei ging Tausenden von Hinweisen nach – dennoch konnte der Mörder bis heute nicht gefasst werden.

Die Leiche von Tristan Brübach wird am 26. März 1998, dem Donnerstag vor den Osterferien, in einem gut 100 Meter langen Wasserdurchlass unter dem Bahnhof im Frankfurter Stadtteil Höchst gefunden. Das grauenhafte Geschehen, das sich an jenem Nachmittag in dem unbeleuchteten Tunnel abgespielt hat, hallt in Frankfurt und darüber hinaus bis heute nach. Die Ermittlungen zählen zu den aufwendigsten der deutschen Nachkriegsgeschichte.

20 Minuten braucht der Täter für sein blutiges Werk

Wie sich bei der Obduktion herausstellt, hat der Mörder den Jungen zunächst gewürgt, ihm die Kehle mit einem Messer durchtrennt und ihm dann zahlreiche Stichverletzungen an Ober- und Unterkörper zugefügt. Den Leichnam lässt der Täter in dem Bach, der durch den Tunnel fließt, ausbluten. Danach schneidet er Muskelfleisch heraus, entnimmt die Hoden des Jungen und transportiert die Leichenteile wahrscheinlich in dessen Rucksack ab. Für die Ausführung seines blutigen Werks nimmt sich der Täter nach Einschätzung der Ermittler bis zu 20 Minuten Zeit. Wohl niemals zuvor, so heißt es im Frankfurter Mordkommissariat, habe ein Mörder einen Leichnam an einem öffentlich zugänglichen Ort und mitten am Tag zerstückelt.

Der Tunnel in Frankfurt-Höchst, in dem Tristans Leiche gefunden wurde.dpa

Uwe Fey hat im Fall Tristan jahrelang ermittelt. Seit 2021 ist der frühere Kriminalhauptkommissar im Ruhestand, und die Hoffnung, den Mörder des Jungen noch zu finden, schwindet von Monat zu Monat. Fey glaubt, dass sich Opfer und Täter kannten, dass der Mörder einen Bezug zum Tatort hatte, womöglich dort gearbeitet, vielleicht sogar gewohnt hat. Ein Ortsfremder hätte den damals zugewachsenen Tatort gar nicht gesehen.

Warum der Mörder dennoch bis heute nicht gefasst wurde? Viel Glück auf der Seite des Täters, viel Pech auf der Seite der Ermittler. „So ist das halt leider manchmal“, sagt Fey und berichtet von drei Mordfällen, in denen er überzeugt sei, den Täter zu kennen. „Hundertprozentig – aber ich kann es nicht beweisen.“ Mit solchen Gewissheiten müsse ein Kriminalbeamter leben.

Cold Cases: Dieser Artikel ist Teil einer Serie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Cold Cases: Dieser Artikel ist Teil einer Serie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.F.A.S.

Tristan Brübach wächst in schwierigen Verhältnissen auf. Seine Mutter nimmt sich drei Jahre vor der Ermordung des Sohnes das Leben, der Vater ist alleinerziehend. Der blonde Junge mit dem Pagenschnitt gilt als ruhig, aber selbstbewusst, er stromert, wie viele Schlüsselkinder, häufig herum. Am Tattag verlässt er gegen 13.30 Uhr die Schule. Er klagt über Rückenschmerzen und will deshalb zum Arzt gehen. Um 15.20 Uhr, so berichtet eine Zeugin, sitzt er mit zwei Männern in der Bruno-Asch-Anlage nahe dem Höchster Bahnhof auf einer Bank. Es ist das letzte Mal, dass er lebend gesehen wird.

Drei Jugendliche sahen die Silhouette eines Mannes – vermutlich der Täter

Was danach geschieht, lässt sich nur grob rekonstruieren. Von der Bruno-Asch-Anlage bis zum Südeingang des Tunnels sind es zu Fuß etwa fünf Minuten. Ob Tristan erst in der Nähe des Tunnels auf seinen Mörder trifft, ist unklar. Am Tunneleingang wird er überwältigt, geschlagen, bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt und getötet. Dann zieht sein Peiniger die Leiche 25 Meter weiter in den Tunnel hinein, entkleidet sie teilweise und beginnt sein blutiges Werk.

Gegen 15.30 Uhr sehen drei Jugendliche, die den Tunnel als Abkürzung nutzen wollen, die Silhouette einer männlichen Person, die sich über einen Gegenstand beugt. Sie beschließen daraufhin, einen Umweg zu nehmen. Die Polizei geht davon aus, dass die Jugendlichen den Mörder bei seiner Tat beobachtet haben. Gegen 16 Uhr entdecken zwei Kinder, die den Tunnel durchqueren wollen, Tristans Leiche.

Tristans Grab wurde nach 20 Jahren aufgelöst, aber diese Gedenkstätte auf dem Friedhof Höchst erinnert bis heute an ihn.
Tristans Grab wurde nach 20 Jahren aufgelöst, aber diese Gedenkstätte auf dem Friedhof Höchst erinnert bis heute an ihn.Rosa Burczyk

Die Grausamkeit und das einmalige Verletzungsbild machen selbst erfahrene Ermittler fassungslos. Bis heute ist in ganz Europa kein vergleichbarer Fall bekannt. Die Polizei arbeitet mit dem FBI und Europol zusammen, um Parallelen zu anderen Verbrechen zu finden – vergeblich. Nach der Tat legt der Mörder die Leiche auf dem begehbaren Betonsockel am Rand des durch den Tunnel fließenden Baches ab, zieht Tristans Hose wieder hoch und platziert die Schuhe des Jungen auf dessen Oberschenkeln, sodass es aussieht wie eine Inszenierung oder ein Ritual. Auch das ist in keinem anderen Fall dokumentiert. „Er wollte seine Tat ungeschehen machen“, lautet die Erklärung von Psychologen.

Noch am Tattag beginnt eine der größten Fahndungen der deutschen Kriminalgeschichte. Mehr als 100 Kriminalbeamte sichern Spuren, befragen Zeugen, legen den Bach am Tatort trocken, setzen Spürhunde, Metalldetektoren und Sonden ein. Eine Sonderkommission wird eingerichtet, doch die Hoffnung, den Täter schnell zu fassen, zerschlägt sich. Die Polizei steht unter enormem Druck, den Fall zu klären. Auch international sorgt die Tat für Schlagzeilen – nicht zuletzt wegen ihrer beispiellosen Brutalität und Rätselhaftigkeit. Das außergewöhnlich grausame Vorgehen des Mörders gegen ein Kind steigert den Ehrgeiz jedes einzelnen Mitglieds der Sonderkommission.

Die wichtigste Spur im Fall Tristan: ein Fingerabdruck.
Die wichtigste Spur im Fall Tristan: ein Fingerabdruck.dpa

Die wichtigste Spur ist ein verwischter Fingerabdruck, den der Täter mit Tristans Blut auf einem Schulheft hinterlässt. Dieser Abdruck wird digital aufbereitet und mit internationalen Datenbanken abgeglichen – ohne Erfolg. Offensichtlich ist der Gesuchte bisher noch nicht „erkennungsdienstlich“ behandelt worden. 2002 nehmen rund 4600 Männer im Alter zwischen 18 und 49 Jahren aus den Stadtteilen rund um den Tatort freiwillig an einer Fingerabdruck-Reihenuntersuchung teil. Auch gut 50 „Verweigerer“ werden anschließend überprüft. Doch der entscheidende Treffer bleibt aus.

Die Ermittler durchleuchten Tristans Umfeld, befragen Freunde, Bekannte, Lehrer und sogar Patienten aus Psychia­trien und ehemalige Strafgefangene. Sie suchen unter Kriegsverbrechern aus dem früheren Jugoslawien, nach Fremdenlegionären, nach möglichen reisenden Tätern. Auch ein Zusammenhang mit bekannten Fällen wie dem „Kannibalen von Rotenburg“ wird geprüft und ausgeschlossen. Die Ermittlungen führen bis nach Nordamerika und Asien – alles ohne Ergebnis.

Phantombild des Hessischen LKA von 2009: erstellt mit neuen technischen Möglichkeiten auf der Basis von glaubhaften Zeugenaussagen.
Phantombild des Hessischen LKA von 2009: erstellt mit neuen technischen Möglichkeiten auf der Basis von glaubhaften Zeugenaussagen.dpa

Eine zentrale Rolle bei der Suche nach dem Täter spielt ein Phantombild. Ein Mädchen berichtet von einem hageren, ungepflegten Mann mit auffälligem Zopf, der etwa zur Tatzeit aus einem Gebüsch in der Nähe des Tunnels gekommen sei. Er soll zwischen 20 und 30 Jahre alt gewesen sein, etwa 1,75 Meter groß, das Gesicht durch das Schild einer Baseballkappe verdeckt. In Begleitung eines Mannes Mitte 20 mit Zopf war Tristan Tage vor dem Mord auch von einer anderen Zeugin gesehen worden.

Eine Woche nach der Tat kommt ein Mann, der die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und eine Narbe über der Oberlippe – eine sogenannte Lippenspalte – hat, in eine Frankfurter Wirtschaftskanzlei. „Ich hab’ Scheiße gebaut“, sagt er und bittet um anwaltlichen Beistand, woraufhin ihn die Rechtsanwaltsgehilfin in eine nahe gelegene, auf Kriminalfälle spezialisierte Kanzlei weiterschickt, wo der Mann allerdings nie erscheint. Das Phantombild des Verdächtigen wird bundesweit verbreitet, doch trotz Tausender Hinweise bleibt der „Zopfmann“ unauffindbar.

Gesucht: ein aggressiver, jähzorniger Einzelgänger

Einem sogenannten Täterprofil des Bundeskriminalamts zufolge könnte es sich bei dem Gesuchten um einen Mann im Alter zwischen 17 und 30 Jahren handeln, der vermutlich nicht in einer festen Partnerschaft lebe, sondern eher Einzelgänger sei. Psychologen schätzen ihn als aggressiven, jähzornigen Typen ein, der eventuell schon häufiger wegen gewalttätigen Verhaltens aufgefallen sei. Denkbar sei zudem, dass der Mann schon in seiner Kindheit oder Jugend gern Tiere gequält habe.

Dann keimt nach einem Zufallsfund wieder Hoffnung auf. Fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Mord wird Tristans Rucksack in einem Waldstück in der Nähe der hessischen Gemeinde Niedernhausen (Rheingau-Taunus-Kreis) entdeckt, etwa 20 Kilometer Luftlinie vom Tatort entfernt. Einem bei einem Energieversorgungsunternehmen beschäftigten Mann war der Rucksack bereits Monate zuvor bei einem Kontrollgang direkt neben einem Waldweg aufgefallen, er hatte dem Fund damals aber keine Bedeutung beigemessen. Erst nachdem die Polizei die Öffentlichkeitsfahndung noch einmal verstärkt hat, erinnert er sich. Der Fundort gibt Rätsel auf: Wie kam der Rucksack dorthin? Hat der Täter ihn absichtlich dort platziert, um eine falsche Fährte zu legen? Die Polizei rekonstruiert mögliche Wege. Doch auch diese Spur führt ins Leere.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



In dem Rucksack findet sich unter anderem eine Deutschland-Straßenkarte in tschechischer Sprache. Zweifelhaft, ob sie vom Täter stamme, heißt es bei der Staatsanwaltschaft. Der Polizei zufolge wurde die Karte 1997 in Deutschland hergestellt und fast ausschließlich in der Tschechischen Republik verkauft. Die Ermittler überprüfen nach dem Fund auch Arbeiter von einer nahe gelegenen Baustelle für die ICE-Trasse Frankfurt–Köln. Im tschechischen Fernsehen wird ein von der deutschen Polizei produzierter Fahndungsfilm ausgestrahlt – wieder nichts.

Im Oktober 1999 wird nachts das Grab von Tristan geschändet. 1,20 Meter tief wird die Grabstätte aufgegraben, die Blumen und die Erde platziert der Unbekannte – die Polizei geht von nur einem Täter aus – auf einer Plane neben dem Grab, an den Sarg selbst gelangt er aber nicht. Möglicherweise wird er bei seiner Arbeit gestört. Fey ist überzeugt, dass hier Tristans Mörder am Werk war. „Der wollte noch einmal an die Leiche.“ Neue Spuren ergaben sich aus der mysteriösen Graböffnung nicht.

„Wir haben alles versucht, aber der Täter ist wie ein Phantom“, sagt ein Frankfurter Ermittler Jahre nach dem Mord. Und auch die Fragen, wieso Tristan zum Opfer und warum er auf so bestialische Art und Weise ermordet wurde, sind bis heute unbeantwortet. Einer Analyse des Bundeskriminalamts zufolge war Tristan ein Zufallsopfer, ein „austauschbares Objekt“, das auf einen Besessenen traf. Primäres Motiv des Täters sei „die Erlangung der Körperteile eines männlichen kindlichen Opfers zur Umsetzung seiner sexuellen Phantasien“ gewesen.

Bis heute sind mehr als 23.000 Hinweise eingegangen, nicht nur unmittelbar nach der Tat, sondern auch in den Folgejahren; etwa nachdem in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY . . . ungelöst“ über den Fall berichtet wurde. Die Akten füllen Regale. In den vergangenen Jahren wurden immer wieder einmal neue Ansätze verfolgt: Die Polizei prüfte einen möglichen Zusammenhang mit dem Serienmörder Manfred Seel aus Hessen, der nach seinem Tod 2014 als Verdächtiger in mehreren ungeklärten Mordfällen galt. Auch ein Abgleich mit dem im Fall Maddie McCann tatverdächtigen Christian B. wurde vorgenommen. Aber beide Verdächtige konnten nicht mit der Ermordung von Tristan Brübach in Verbindung gebracht werden.

Möglicherweise ist der Mörder längst nicht mehr am Leben

Die Akten von Mordfällen werden nie geschlossen. Die Ermittlungen ruhen möglicherweise jahrelang, können aber jederzeit wieder aufgenommen werden, wenn neue Spuren oder Hinweise auftauchen. Die Aufklärungsquote bei Kapitalverbrechen lag in Frankfurt im vergangenen Jahr bei fast 90 Prozent. Immer wieder einmal können länger zurückliegende Morde aufgeklärt werden. Aus diesen Zahlen schöpfen die Ermittler Hoffnung, wenn sie in einem konkreten Fall zunächst nicht vorankommen. Aber klar ist, je länger eine Tat zurückliegt, desto geringer werden die Erfolgsaussichten. Möglicherweise ist Tristans Mörder schon lange nicht mehr am Leben und wird deshalb nie überführt.

Tristans Vater starb im Dezember 2014 im Alter von 59 Jahren. Sein Sohn wäre, wenn er nicht getötet worden wäre, heute 40 Jahre alt. Tristans Grab auf dem Höchster Friedhof wurde 2018 eingeebnet. Aber in Frankfurt ist der Tod des Jungen nicht vergessen. Noch heute, heißt es bei der Polizei in der Mainmetropole, gingen gelegentlich Hinweise auf den „Mann mit dem Zopf“ ein. Das Phantombild des Hauptverdächtigen habe sich im kollektiven Bewusstsein eingeprägt.

Nach menschlichem Ermessen hat die Polizei kaum etwas unversucht gelassen, um den Fall zu lösen. So bleibt der Mord an Tristan Brübach ein ernüchterndes Beispiel für die Grenzen polizeilicher Ermittlungsarbeit. Sein grausamer Tod ist ein Sinnbild für ungelöste Verbrechen – und für die Hoffnung, dass irgendwann doch noch die Wahrheit ans Licht kommt. Aber manchmal hat ein Mörder eben auch einfach Glück.

Cold Cases

Wer war der Mörder? Auch viele Jahre nach der Tat werden ungeklärte Kriminalfälle neu aufgerollt – und manchmal dank modernster Technik gelöst. In unserer Serie „Cold Cases“ stellen wir einige Verbrechen vor und geben Einblicke in die Arbeit von Ermittlern.

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