Liste der Toten wird länger: Israel tötet einen Feind nach dem anderen | ABC-Z
Nach dem Massaker der Hamas in Israel im Oktober 2023 startet das Land eine beispiellose Jagd auf die Verantwortlichen. Innerhalb eines Jahres sterben zahlreiche Hisbollah- und Hamas-Kommandeure. Doch ob die gezielten Tötungen tatsächlich zielführend sind, ist umstritten.
Das Massaker der Hamas auf israelischem Boden vom 7. Oktober 2023 war noch keine zwei Wochen her, da war für Expertinnen und Experten schon unübersehbar: Israel wird versuchen, die Mörder, Planer und Hintermänner zur Rechenschaft zu ziehen. Und kaum jemand stellte sich dafür Gerichtsverfahren vor. Vielmehr wurde erwartet, dass das Land seine Taktik der gezielten Tötungen ausweiten wird, auch wenn diese völkerrechtlich höchst umstritten sind .
Ein Jahr später ist die Kommandostruktur von Hamas und Hisbollah bis in die Spitzenpositionen kaum noch wiederzuerkennen. Israel hat nahezu die gesamten Führungsriegen ausgeschaltet. Allein in der letzten Septemberwoche wurden bei gezielten israelischen Angriffen sieben hochrangige Hisbollah-Kommandeure und Funktionäre getötet. Am 27. September verkündete das israelische Militär seinen vorläufig größten Erfolg, Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah sei bei einem Luftangriff auf Beirut “eliminiert” worden. Einen Tag später bestätigte die vom Iran gegründete und unterstützte Organisation Nasrallahs Tod.
Zusammen mit Nasrallah starben in dem Bunker tief unter der Erde Beiruts der ranghohe Hisbollah-Kommandeur Ali Karaki, der für die Südfront verantwortlich war, und Brigadegeneral Abbas Nilforoushan, der stellvertretende Befehlshaber der Iranischen Revolutionsgarden. Nasrallahs rechte Hand, Fuad Shukr, war bereits im Juli “ausgeschaltet” worden.
Alte Feinde
Mitte September tötete Israel ebenfalls in Beirut mit einem einzigen Luftschlag 15 Hisbollah-Kommandeure, die nach israelischen Militärangaben dabei waren, eine militärische Reaktion auf die Pager-Explosionen zu planen. Dabei soll es um eine Bodenoperation auf israelischem Boden gegangen sein. Unter den Getöteten war ein Großteil der Führungsriege der Hisbollah-Eliteeinheit Radwan, auch Radwan-Chef Ibrahim Akil. Der stand seit Jahren auf der Fahndungsliste der USA, unter anderem soll er Teil der Gruppe gewesen sein, die 1983 den Bombenanschlag auf die US-Botschaft in Beirut verübte.
In einem X-Post, der vor wenigen Tagen die Hisbollah-Spitze in ihrer bisherigen Struktur zeigte, ist von zehn Männern nur noch einer am Leben – Abu Ali Rida, der Kommandeur der regionalen Division Bader. In israelischen Medien wird er als toter Mann bezeichnet, der noch herumläuft, seine Tötung scheint nur eine Frage der Zeit.
Unbestreitbar ist, dass Israel die Männer, die es für die Anschläge vom 7. Oktober verantwortlich macht, einen nach dem anderen getötet hat. Das betrifft nicht nur die Hisbollah, sondern auch die Hamas und den Palästinensischen Islamischen Dschihad. Der politische Anführer der Hamas, Ismael Hanija, starb Ende Juli gezielt. Er war Gast bei der Vereidigung des neuen Präsidenten Mussad Peseschkian, als ihn in einem Gästehaus der iranischen Regierung in Teheran eine Rakete traf. Hamas-Militärchef Mohammed Deif, den viele für den Mastermind der Oktoberangriffe halten, starb israelischen Angaben zufolge am 13. Juli bei dem Angriff auf ein Gelände im Gebiet von Chan Younis im Gazastreifen.
Mehr als ein Symbol?
Nach der Schmach, den 7. Oktober nicht vorhergesehen und verhindert zu haben, sind Israels Geheimdienste und das Militär entschlossen, den Feinden des Landes nie wieder die Oberhand zu lassen. Ob die gezielten Tötungen sich am Ende als zielführend erweisen, muss sich erst zeigen.
Der Direktor des Deutschen Orient-Instituts und ehemalige EU-Sonderbeauftragte für den Friedensprozess im Nahen Osten, Andreas Reinicke, nannte die Tötungen nach dem Angriff auf Hanija im “Handelsblatt” ein “großes Symbol”. Israel zeige seinen Feinden damit: “Wir können euch erwischen, wo immer wir wollen.”
In einer Analyse für das International Centre for Counter Terrorism kommt der Terrorismus-Experte Graig R. Klein nach dem Tod Nasrallahs zu dem Schluss, dass eine Zerschlagung von Terrorgruppen auf diese Weise kaum gelingen könne. Größere und lange bestehende Gruppen überstehen solche Enthauptungsschläge demnach häufiger, weil sie in der Lage sind, die Verluste auszugleichen. Klein zufolge haben sie “etablierte Nachfolgeprotokolle, Backup- oder Notfallpläne und mehrere Ebenen operativer Einheiten und Richtlinien”.
Klein stellt die These auf, dass gezielte Angriffe oft besser geeignet sind, taktische Ziele zu erreichen, als umfassende strategische Siege zu erzielen. Er gibt zu bedenken, dass es in der Vergangenheit wiederholt gelungen ist, beispielsweise Anführer des Islamischen Staates im Irak und Syrien (ISIS) zu töten. Daraufhin hätten immer neue Anführer die Macht übernommen. Die Fähigkeit des IS, Terroranschläge zu begehen, sei davon oft “nur begrenzt beeinträchtigt” worden. Als Beleg führt er an, dass 2024, dreizehn Jahre nach der Tötung von Osama Bin Laden, “laut dem Global Terrorism Index einige der aktivsten, gewalttätigsten und tödlichsten Terrorgruppen der Welt immer noch mit Al-Kaida verbunden” sind.
Der langjährige Nahost-Korrespondent Richard C. Schneider stellt diesen Mechanismus auch bei früheren Tötungen von Hamas-Anführern durch Israel fest. Das Ergebnis sei immer das gleiche gewesen, schreibt er in einem Beitrag für das Zentrum Liberale Moderne. Die Getöteten seien ersetzt worden, “der Kampf ging weiter”. Oft sei der Nachfolger sogar noch radikaler als sein Vorgänger gewesen. Manchmal habe Israel Hamas-Führungsfiguren mit speziellen Kenntnissen ausgeschaltet, etwa Bombenbauer. “Doch es dauerte nie lange, bis die Islamisten dieses Know-How wiedererlangt hatten und mit Hilfe des Iran auch noch ausbauen konnten.”
Die Verunsicherung wird bleiben
Die israelische Führung erwartet sich womöglich auch gar kein Aus von Hisbollah: Dem israelischen Militär genügt schon die Schwächung der Hisbollah, um im Süden des Libanon einzumarschieren und eine Pufferzone zu den Wohngebieten im Norden Israels zu schaffen. Seit dem 8. Oktober sind dort tausende Raketen aus dem Libanon niedergegangen, Zehntausende Israelis wurden evakuiert.
In jedem Fall bleibt das Moment der tiefen Verunsicherung durch das Ausmaß der israelischen Unterwanderung von Hisbollah. Wenn Israel in Echtzeit wissen konnte, wo Nasrallah ist, können die verbleibenden Hisbollah-Anführer kaum noch einschätzen, wem sie trauen können. Das persönliche Treffen war vermutlich auch nur deshalb nötig geworden, weil nach den Angriffen auf Pager und Sprechfunkgeräte jede elektronische Kommunikation unberechenbar und gefährlich erscheinen muss.
Von den über die Region hinaus bekannten Hamas- und Hisbollah-Anführern ist kaum noch jemand übrig- lediglich der schon erwähnte Abu Ali Rida und Hamas-Chef Jihia al-Sinwar. Wobei zwischenzeitlich schon Gerüchte kursierten, nach denen Sinwar getötet wurde. Der Grund dafür war, dass er seit Wochen mit niemandem außerhalb seiner Terrororganisation Kontakt hat. Dabei könnte es sich aber auch um eine Sicherheitsmaßnahme handeln. Denn es sieht nicht danach aus, als ob Israel bereit wäre, die Abarbeitung seiner Kill-Liste zu stoppen.