Lindsey Vonn ist noch nicht fertig | ABC-Z
Das Rennen auf der Corvilia von St. Moritz war seit fast einer Stunde vorbei, aber noch immer drängten sich die Fans am Ausgang des Athletenkorridors. Dabei waren die meisten Skirennläuferinnen schon längst auf dem Weg ins Hotel. Selbst die drei Schnellsten dieses Super-G-Rennens hatten ihre Sachen bereits gepackt. Nur eine Frau mit zwei Fellbommeln auf der weißen Strickmütze stand noch im fast verwaisten Zielraum. Sie beantwortete die immer gleichen Fragen geduldig, schrieb Autogramme und war auch noch zum 100. Selfie mit einem breiten Grinsen bereit. Sie schien gar nicht mehr fortzuwollen von dieser Bühne, auf die sie nach fast sechs Jahren in St. Moritz zurückgekehrt war.
Vermutlich wäre Lindsey Vonn auch lachend und beschwingt von Mikrofon zu Mikrofon spaziert, hätte sie nicht ein ganz so glänzendes Comeback geschafft. Der 14. Platz mit 1,18 Sekunde Rückstand auf die Siegerin Cornelia Hütter aus Österreich ist auch deshalb hoch einzuschätzen, weil die Piste nach 30 Läuferinnen in ein paar Passagen schon etwas gelitten hatte. Nach der Startnummer 20 hatten es nur noch wenige Athletinnen in die Weltcup-Punkte geschafft, neben Vonn auch Emma Aicher vom SV Mahlstetten, die Sechzehnte wurde.
„Gemütlich runtergefahren“
„Das war nur der Anfang“, verkündete Lindsey Vonn. Und da klang sie fast wieder wie jene Skirennläuferin, die sie früher einmal gewesen war, vor ihrer sechsjährigen Pause oder besser vor ihren schweren Verletzungen im rechten Knie. Da hatte es die Amerikanerin wie kaum eine Athletin so perfekt geschafft, die Grenzen in den schnellen Disziplinen auszuloten und war damit den Konkurrentinnen oft weit enteilt. Insgesamt 82 Weltcup-Siege gelangen ihr bis zu ihrem Karriereende 2019, 23 davon nach 2013, als sie sich das rechte Knie zum ersten Mal schwer verletzte.
Davon, daran anzuknüpfen, ist sie nun aber noch ein Stück entfernt. „Ich muss Geduld haben, auch wenn das nicht meine Stärke ist.“ Sich zurückzunehmen auf der Piste, das musste Vonn erst lernen, als sie in den vergangenen Monaten an ihrem Comeback arbeitete. In St. Moritz ist ihr das perfekt gelungen. Sicher kam ihr zugute, dass sie die Strecke bestens kennt. Fünfmal hat sie auf der Corviglia bereits gewonnen, insgesamt zehnmal stand sie auf dem Podest.
Sie sei „gemütlich runtergefahren“, sagte Vonn. Früher hätte sie man ihr das als Überheblichkeit ausgelegt, denn natürlich wird niemand 14., der gemütlich eine Rennpiste hinunterfährt. Es war vielmehr ihre Erklärung dafür, nicht alles riskiert zu haben, sich heranzutasten. Ein paar Kurven seien schon unruhig gewesen, gab sie zu, deshalb habe sie „aus Sicherheitsgründen etwas gebremst“. Denn bei ihrem ersten Rennen „war mein Hauptziel, ins Ziel zu kommen“. Das ist ihr demnächst nicht mehr genug. Noch müssten die Konkurrentinnen nicht nervös werden, sagte sie. „Aber ich denke in ein paar Rennen.“
„Das spürst du niemals so im Leben“
Wer Lindsey Vonn an diesem Samstag bei strahlendem Sonnenschein auf der Corviglia erlebt hat, ist geneigt zu sagen, sie ist wieder dort angekommen, wo sie vor sechs Jahren Abschied nehmen musste. Unfreiwillig, weil das ramponierte Knie nicht mehr mitspielte. Anders als beispielsweise Maria Höfl-Riesch hatte sie den Zeitpunkt des Karriereendes nicht selbst gewählt, sondern der Körper ihn bestimmt. Sie war deshalb noch nicht fertig, damals 2019 in Are.
„Dieses Adrenalin, die Geschwindigkeit, das Risiko wieder zu spüren“, sagt Vonn, mache sie glücklich. „Das spürst du niemals so im Leben, nur am Start eines Speed-Weltcups.“
Seit April hat sie einen Teilersatz im rechten Knie, einen Titan-Überzug über den ramponierten Gelenkknochen, und damit kann sie nicht nur wieder problemlos gehen und laufen, sondern auch wieder Skifahren auf Renn-Niveau. Das Risiko, sagt der frühere Mannschaftsarzt des Deutschen Skiverbandes, Ernst-Otto Münch, sei nicht besonders groß, und das Comeback keinesfalls verantwortungslos. Der Orthopäde und Kniespezialist aus Garmisch-Partenkirchen hat durch Kontakte zu früheren Kollegen die Röntgenbilder des operierten Knies gesehen. Vonns operierende Ärzte hatten jedenfalls keine Bedenken, als sie ihnen von ihren Comeback-Plänen berichteten.
Da sie schmerzfrei ist, beim Skifahren wie im Alltag, „denke ich nie über meinen Knie nach“, sagt sie. „Zum ersten Mal seit meinem ersten Kreuzbandriss 2013“ müsse sie das nicht mehr machen, sondern könne sich ganz darauf konzentrieren, „wie ich fahren sollte“. Auch dass sie mit 40 die älteste Skirennläuferin ist, ist für sie eher Herausforderung als Hinderungsgrund. „Nur weil es noch keine probiert hat“, sagt sie, bedeute es doch nicht, dass es nicht funktioniere.
Sie hätte an diesem Tag mit all ihren Kritikern, die das Comeback in den vergangenen Wochen wahlweise für „bescheuert“ (Sonja Nef, ehemalige Riesenslalom-Weltmeisterin aus der Schweiz) oder „brandgefährlich“ (Österreichs Doppel-Olympiasiegerin Michaela Dorfmeister) hielten, abrechnen können. Aber damit hatte sie sich in den vergangenen Tagen via soziale Medien bereits ausgiebig beschäftigt. Jetzt, sagte sie, habe sie keine Zeit mehr, „über diese negativen Dinge zu reden“. Lindsey Vonn hat noch einiges vor auf der Rennpiste. Und es sieht so aus, als ob es klappen könnte.
Schweizer Rekord-Sieg für Odermatt
Ski-Star Marco Odermatt ist zu seinem vierten Saisonsieg und einer neuen Bestmarke gefahren. Der 27-Jährige gewann den Riesenslalom in Alta Badia und ist nun der Schweizer mit den meisten Erfolgen im alpinen Weltcup. Zum 41. Mal in seiner Karriere stand Odermatt ganz oben auf dem Podest, Zweiter in diesem Ranking der Eidgenossen ist Pirmin Zurbriggen (40).
Odermatt kämpfte sich in Alta Badia im zweiten Durchgang noch vom dritten auf den ersten Rang vor. Platz zwei ging an den Franzosen Leo Anguenot vor Alexander Steen Olsen aus Norwegen. Anton Grammel fuhr als einziger Deutscher in die Punkte und erreichte mit Platz elf das bislang beste Weltcup-Ergebnis seiner Karriere. (dpa)