Lieferando: Sie wollen keine Schattenflotte werden | ABC-Z

Magnus Heerlein liefert eigentlich immer ab. Egal, wie
das Wetter ist und wie kurzfristig er von seinem Ziel erfährt. “Die Kunden
haben schließlich Hunger”, sagt der 29-Jährige. Er ist seit sieben Jahren
Fahrer beim Lieferdienst Lieferando in Dresden. Neben dem Studium verdient er
sich als Rider sein Einkommen, für
ihn ein “perfekter Job”, erzählt er am Telefon.
Nur:
“Die Bezahlung ist der größte Nachteil”, sagt Heerlein. 12,82
Euro die Stunde, Mindestlohn, das sei nicht fair.
Jetzt solle auch noch der Bonus
wegfallen, für besonders häufige
Lieferungen. Mehrere Hunderte
Euro im Monat würden
ihm dann fehlen.
Mitte
Juli hatte das Unternehmen angekündigt,
bis Jahresende rund 2.000 Mitarbeiter
zu entlassen, was etwa einem Fünftel der deutschlandweiten Flotte entspricht. 34 Standorte will es schließen, um sich auf “nachfragestarke Gebiete” zu konzentrieren, wie das Unternehmen auf Nachfrage betont. Das bisherige Modell sei “weniger agil als kleine Restaurants oder spezialisierte Lieferbetriebe” und die “Konkurrenz nur eine App entfernt”. Wichtig ist Lieferando, dass sich in 70 Prozent aller Städte nichts ändere.
Ausgeliefert wird trotzdem
Heerlein beruhigt das nicht. Der Betriebsratsvorsitzende streikt an
diesem Donnerstag und Freitag mit anderen Lieferando-Fahrern in Dresden. Etwa 50 der 120 Mitarbeiter am Standort machten heute mit. Auch in anderen Großstädten wie Köln haben die Rider bereits die Arbeit verweigert. “Es ist
ein Zeichen an die Kollegen in ganz Deutschland. Wir kämpfen auch für den
Erhalt ihrer Arbeitsplätze und gegen die Auslagerung an Subunternehmen”, sagt
er. Bei Lieferando bestelltes Essen dürfte trotz Streik weiterhin ankommen: Nicht alle Fahrer machen mit,
zudem betreiben viele der auf der Plattform vertretenen Restaurants eigene Kurierdienste.
Bereits vor zwei Jahren streikten Lieferando-Mitarbeiter für einen Tarifvertrag – vergeblich. Arbeitnehmer und Lieferando konnten sich nicht einigen, Lieferando hält einen Tarifvertrag “im gegebenen Marktumfeld für unrealistisch”.
Seit Jahren sind die Lieferdienste in einem schwer umkämpften Markt unterwegs. Während Corona erlebten sie einen Boom, doch inzwischen gehen die Menschen wieder in Restaurants. Die Anbieter müssen effizienter arbeiten, einige sind vom Markt wieder verschwunden, etwa Foodpanda oder Getir. In Deutschland sind die wichtigsten Player Just Eat Takeaway, zu dem Lieferando gehört, Wolt und Ubereats, die um Marktanteile kämpfen. Im vergangenen Jahr betrug der Umsatz des niederländischen Lieferando-Mutterkonzerns Just Eat Takeaway rund 5,1 Milliarden Euro. Der Verlust lag indes bei 1,6 Milliarden Euro. Just Eat Takeaway ist in 17 internationalen Märkten tätig, Angaben zu den einzelnen Märkten macht der Konzern nicht. Aktuell will etwa der südafrikanische Technologie-Investor Prosus den niederländischen Just Eat Takeaway für beeindruckende 4,1 Milliarden Euro übernehmen.
Unterstützung bekommt Rider Heerlein von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Sie sieht mit
Sorge, dass Lieferando vor allem die Kosten bei den Ridern reduzieren will.
Zukünftig sollen sie selbstständig sein – und eben nicht
mehr bei Lieferando fest angestellt. Deutschland ziehe damit nach, schon in
Österreich habe Lieferando ähnlich gehandelt, sagt Mark
Baumeister, NGG-Referatsleiter. Dort hat der Lieferdienst Anfang dieses
Jahres allen Fahrern gekündigt und die Logistik auf freie Dienstverträge
umgestellt.
Statt einer direkten Anstellung drohe den Fahrern in Deutschland bald die Arbeit in
einer “Schattenflotte”, sagt Baumeister. Bisher sind die Rider fast ausschließlich bei einer
Lieferando-Tochter,
Takeaway Express, fest angestellt. Damit galt Lieferando als eines
der wenigen Unternehmen in der Essenslieferbranche, das einen Großteil der
Fahrer fest angestellt hatte. In Zukunft wolle man vermehrt mit “Flottenpartnern”
zusammenarbeiten, schreibt Lieferando. So fahren die
Kuriere zwar weiterhin im
Auftrag von Lieferando Essen aus, sind dann aber bei einem anderen Unternehmen
angestellt. Es
sei dann kein Widerspruch, gleichzeitig für Lieferando und einen anderen
Bestelldienst zu arbeiten, erklärt Baumeister.
Ist das schon Union-Busting?
Lieferando verteidigt das Outsourcing: Das mache das Geschäft effizienter, man erziele eine “höhere Bestelldichte, auch in Randbezirken”. Die Flottenpartner verpflichte man zur Einhaltung der entsprechenden Gesetze und Regelungen. “Sollten uns Verstöße bekannt werden und sich erhärten, so ergreifen wir geeignete Maßnahmen, bis hin zur Beendigung der Zusammenarbeit”, teilt das Unternehmen mit.
Baumeister ist trotzdem skeptisch. Der Gewerkschafter hat den
Verdacht, dass Lieferando durch die Umstrukturierung auch gezielt gegen
Betriebsräte vorgehe, denn auffälligerweise seien von dem
angekündigten Stellenabbau “die Städte betroffen, in denen es gut
organisierte Betriebsräte gibt”. Das sei eine gezielte Behinderung von Betriebsratarbeit, also Union-Busting.
In Dresden befürchtet das auch Heerlein: Zwar sei der Standort nicht so schlimm getroffen, er bleibe erhalten. Aber die Dresdener Lieferzentrale, das sogenannte HUB, wird geschlossen. “Damit
entfällt in den Augen von Lieferando auch die Daseinsberechtigung eines
Betriebsrats”, sagt Heerlein. Er verweist auf mehrere Gerichtsverfahren an mehreren Gerichten, in denen Lieferando sich gegen Betriebsräte wehrt.
Lieferando hält Union-Busting dagegen für einen “reflexhaften Vorwurf”. Man übersehe, “dass alle Fahrer unserer
Bestandslogistik durch Betriebsräte vertreten sind – und es bleiben werden”, erklärt das Unternehmen.
Vor allem Hamburg ist von dem Sparkurs
betroffen, hier entlässt die Geschäftsführung alle knapp 500 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter. Bestellen kann man in Zukunft bei Lieferando zwar weiterhin, aber
die Fahrer arbeiten, trotz der orangenen Firmenkleidung, nicht mehr direkt bei
Lieferando. Der dortige Betriebsratsvorsitzende kann
sich selbst acht Wochen nach der Ankündigung noch über die Art und Weise
der Kommunikation aufregen: “Kurz nach der
Pressemitteilung haben wir eine Mail bekommen. Das war es”, sagt Andreas Schuchard.
Wie sein Dresdener Kollege Heerlein fährt er eigentlich gerne
Essensbestellungen aus, ärgert sich aber über die Bezahlung und die
Arbeitsbedingungen. Zwar bekomme man zehn Cent Kilometerpauschale, wenn man
das eigene Fahrrad fahre. Das sei allerdings zu wenig: “Bei einem Platten zahlt
man ja schon zehn Euro für einen neuen Reifen.” Diensthandys wurden vor etwa
einem Jahr eingezogen, so Schuchard,
seitdem müsse jeder sein eigenes für die Arbeit nutzen.
Ratlos über die Zukunft
Viele der Rider seien nun ratlos, wie es weitergehe. Schuchard rät inzwischen jedem Kollegen und jeder Kollegin ab, nach der Kündigung
bei einem Subunternehmen wieder einzusteigen. Es bestehe ein System aus Scheinselbstständigkeit, bei
dem Fahrer vielleicht unter Mindestlohn arbeiten
müssten. Aber viele hätten gar keine andere
Wahl, fürchtet er. Gerade bei Mitarbeitern mit Migrationshintergrund, die einen
Aufenthaltstitel hätten, sei dieser an
einen Arbeitsplatz geknüpft. Rund 50 bis 60 Prozent
seiner Kollegen hätten einen Migrationshintergrund, erzählt er. Ohne Job kein
Recht, in Deutschland zu bleiben. “Die Situation ist wirklich nicht einfach für die betroffenen
Kollegen.”
In Dresden ist Heerlein unsicher, wie es weitergeht. Ob der Standort Dresden langfristig überleben wird? Heerlein weiß
es nicht. An diesem Donnerstag soll dort erstmals über einen Sozialplan verhandelt werden. Streiken wird der Student trotzdem, auch am Freitag. “Ich
kämpfe für den Erhalt unserer Jobs. Und
irgendwie auch um die Anerkennung des Berufs.”