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Libanon nach der Pager-Attacke: Nahost-Experte: “Die Menschen sind in Panik” | ABC-Z

Im Libanon schmeißen Leute ihre Handys auf die Straße. Seitdem im Land tausende Pager und Hunderte Funkgeräte explodiert sind, regiere die Angst, das Gefühl, es könne jeden treffen, überall, sagt Nahost-Experte Jannis Grimm. Er spricht mit ntv.de über ein Trauma, das zurück ist, und über die Hisbollah, die ins Mark getroffen worden sei.

ntv.de: Herr Grimm, haben die Menschen im Libanon Angst vor einem großen Krieg?

Es gibt Anzeichen dafür, dass der Moment des Anschlags jetzt gewählt wurde, weil die Operation drohte, von der Hisbollah aufgedeckt zu werden. Dem wollte der israelische Geheimdienst zuvorkommen. Doch bei vielen wächst nach dem zweiten Anschlag die Sorge, dass eine wirklich große Invasion der Israelis bevorsteht.

Jannis Julien Grimm ist Konfliktforscher an der Freien Universität Berlin und forscht seit Jahren intensiv zur Hisbollah und dem Libanon.

Das würde zu dem passen, was Israels Verteidigungsminister Joav Galant gesagt hat: Der Schwerpunkt des Krieges “verschiebt sich nach Norden”.

Das zum einen, und das erwarteten und fürchteten die Menschen im Libanon schon seit dem Raketenangriff der Hisbollah auf das Fußballfeld im Golan im Juli, bei dem viele Kinder starben.

Hier stand Israels Reaktion noch aus?

Da war noch nichts erfolgt. Zum anderen ist das Ausschalten von militärischer Infrastruktur, gerade in der Kommunikation, ein klassisches Angriffsziel im Vorfeld einer harten Operation. Israel hat zwei Divisionen an die Grenze im Norden verlegt. Dazu würde es also auch passen. Nun warten alle auf die Rede von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah, heute Nachmittag. Man rechnet mit einer Botschaft an Israel, mit der Ankündigung von Vergeltung. Vor allem hoffen die Menschen aber auf einen Hinweis, und solche Hinweise gibt Nasrallah sehr bewusst, ob ein Vergeltungsakt der Hisbollah schon bald bevorsteht. Er muss außerdem versuchen, Vertrauen wieder herzustellen. Die libanesische Bevölkerung verharrt in Schockstarre.

Zugleich geht es noch immer darum, Verletzte zu versorgen und zu retten. Ist der Libanon dem gewachsen?

Die libanesische Regierung meldet 20 Todesopfer, darunter auch zwei Kinder. Die Zahl der Verletzten ist schwer zu schätzen. Von etwa 4000 wird berichtet, auch darunter viele zivile Opfer. Die alle gut zu versorgen, dazu ist der Libanon überhaupt nicht in der Lage. Das ist ein maroder Staat mitten in einer massiven Finanz- und Wirtschaftskrise, beherrscht von einem Kartell aus korrupten Oligarchen und Milizen. Es gibt quasi keinen öffentlichen Strom und keine funktionierende öffentliche Versorgungsinfrastruktur mehr, nur noch private Generatoren. Das einzige, was diese Situation rettet, ist die Solidarität der Menschen untereinander. Die libanesische Bevölkerung ist enorm resilient, man hilft mit Geld, mit Arbeit, irgendwie.

Viele Freiwillige helfen in den Kliniken, wird berichtet.

Alle wissen, dass die Gesundheitsversorgung dort katastrophal ist, unter anderem auch als Konsequenz der Finanzkrise. In Teilen des Landes trägt im Übrigen auch die Hisbollah selbst die medizinische Versorgung. Sie stellt die Krankenhäuser, das medizinische Personal, sie ist Dienstleister. Deshalb ist auch nicht verwunderlich, dass unter den toten oder verwundeten Mitgliedern teils auch medizinisches und Pflegepersonal ist, Menschen die zwar mit der Hisbollah verbunden sind, aber keine militärischen Funktionen innehaben.

Weil man in diesen Regionen gar nichts machen kann, ohne Hisbollah-Mitglied zu sein?

Die Hisbollah ist in manchen Gegenden Libanons, vor allem im Süden des Landes und in der Bekaa-Ebene, ganz einfach der Staat im Staat, ja. Sie stellt medizinische und soziale Versorgung, hat ein eigenes Bankensystem. Wir sprechen von der Hizbullah meist als Terrororganisation wegen ihres militärischen Arms, sie ist aber auch eine Partei, eine soziale Bewegung und ein Netzwerk von Institutionen. In weiten Teilen des Landes sind viele Beamte, Rettungskräfte, aber auch sonstige Bedienstete im Alltag zivile Bedienstete, sind aber zugleich Hisbollah -Mitglieder oder sogar -Millizionäre mit einem Pager in der Tasche. Die sind vorgestern in die Luft geflogen. Libanesen, mit denen ich im Kontext meiner Forschung seit Jahren Kontakt halte, sind seit vorgestern panisch vor Angst, apathisch – unabhängig davon, ob sie mit der Hisbollah etwas zu tun haben oder nicht. Leute schmeißen teilweise ihre Handys, Funkgeräte, zivilen Pager oder auch ganz andere Apparate auf die Straße, weil sie Angst haben, die könnten explodieren. Die Botschaft Israels wird im Libanon so verstanden: Niemand ist sicher. Es kann jeden treffen.

Bei geschätzt über 1000 Detonationen im ganzen Land erscheint die Zahl der Toten im Vergleich dazu fast gering.

Das erscheint mir beabsichtigt. Dieser Anschlag hat eine riesige Menge an Versehrten zur Folge – ohne Augenlicht, ohne Hände oder Hüfte. Der Angriff auf die Pager erfolgte mit einer Nachricht, die Geräte haben gepiepst. Das Ziel war, dass die Leute ihren Pager in die Hand nehmen, die Nachricht lesen, das Gerät vor dem Gesicht. Sehr vielen Opfern mussten die Augen herausoperiert werden, die Hände oder Finger amputiert. Diese Bilder von zerfetzten Augen holen im Libanon das Trauma von 2020 zurück, in seiner ganzen Wucht.

Sie meinen die gigantische Explosion im Hafen von Beirut?

Die größte nicht-nukleare Explosion der Welt. Im August 2020 mit mehr als 200 Toten und Tausenden Verletzten. Die Bilder, die für diese Jahrhundert-Katastrophe stehen, die sich den Menschen damals eingebrannt haben, zeigen Augen. Zerrissen von all den Glasscherben, die durch die Wucht der Detonation aus den geborstenen Fensterscheiben flogen. Nun sind diese Bilder zurück, fast eins zu eins, das ganze Trauma.

Darum war Ziel des Anschlags Ihrer Ansicht nach eher, möglichst viele Menschen zu verletzen?

Die Retraumtisierung ist sicherlich zumindest Teil des Kalküls. Der wahnsinnige Schock, die erzeugte Panik, die Demoralisierung der libanesischen Gesellschaft sind zentral bei dem Angriff. Gerade auch nach der zweiten Welle am gestrigen Tag. Die Sprengladung in den Funkgeräten war größer als die in den Pagern. Laut Berichten gab es auch Explosionen in privaten Solaranlagen; Telekommunikations-Shops sind in die Luft geflogen. Noch ist gar nicht klar, wie die präpariert wurden. Einige Libanesen, die ich aufgrund meiner Forschung kenne, sind auch verletzt oder waren am Ort der gestrigen Explosionen, hatten aber noch nie einen Bezug zur Hisbollah. Viele Menschen kennen irgendein Opfer. Die Botschaft, die Israel mit diesem Anschlag sendet, lautet: Uns interessiert nicht, ob die Explosion auf der Straße, im Supermarkt oder auf einer Beerdigung stattfindet und wie viele drumherum stehen. Nirgendwo seid Ihr sicher, solange ihr die Hisbollah toleriert. Ein libanesischer Gesprächspartner sagte mir: “We never thought they would outcrazy us.” – “Wir hätten nie gedacht, dass sie noch verrückter wären als wir.” Mit dem ‘Wir’ bezog er sich dabei auf die brutale Bürgerkriegsgeschichte des Libanons, die alle Familien in irgendeiner Weise betroffen hat.

Wenn der Anschlag die libanesische Bevölkerung so erschüttert, was ist mit Hisbollah selbst? Die simpelste Folge: Ihr Kommunikationssystem funktioniert nicht mehr. Aber dieser Anschlag wirkt ja auf viel mehr Ebenen. Wie sieht es da aus?

Das zerstörte Pager-Netz selbst trifft die Miliz tatsächlich nicht so sehr hart, wie oftmals angenommen. Weit über 80 Prozent der Kommunikation wickelt Hisbollah über Kabelleitungen ab oder noch analoger: über Kuriere. Boten fahren mit Motorrad von einem Ort zum anderen und überbringen eine Botschaft. Das war auch eine Konsequenz aus der Erkenntnis, dass Israel als Gegner technisch immer überlegen sein würde. Also hat man versucht, den High Tech-Feind durch Low Tech-Lösungen vorzuführen.

Wann wurden die Pager angeschafft?

Die Entscheidung für die Pager muss in etwa vor fünf Monaten gefallen sein. Sie war eine bewusste Konsequenz angesichts der israelischen Kriegsführung nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober. Seither hat Israel viele Kader der Hisbollah durch gezielte Tötungen aus dem Weg geräumt. Das war möglich, weil man diese Leute mittels GPS-Daten oder Kamerabildern auf ihren gehackten Telefonen orten konnte. Nasrallah hat damals in einer Rede gesagt: “Schmeißt eure Handys weg!” Im Zuge dessen wurde dann entschieden, die Pager anzuschaffen und die Walkie Talkies als Ersatz für den Notfall. Das muss der israelischen Seite gesteckt worden sein.

Der Geheimdienst ist in die Lieferkette hineingegrätscht?

Ja, es hieß ja zunächst, die Pager seien in Taiwan lizensiert und in Ungarn produziert worden, aber die ungarische Firma existiert gar nicht, nur ihr Briefkasten. Man kann davon ausgehen, dass der israelische Geheimdienst selbst oder ein Zulieferer die Geräte hergestellt, präpariert oder geliefert hat. Unter dem Deckmantel der ungarischen Firma und unter der Lizenz des Unternehmens aus Taiwan. Das macht diesen Anschlag völkerrechtlich so problematisch. Der Sprengsatz wurde eingesetzt, die Sprengfalle wurde scharf gestellt, ohne irgendeine Kontrolle darüber zu haben, in wessen Hand, in welcher Umgebung der später einmal detonieren würde, auf der Straße, im Supermarkt, im Wohnzimmer. Stellen Sie sich vor, ein Milizionär wäre gestern im Flugzeug gesessen.

Wie sehr schwächen die eigenen Verluste die Hisbollah?

Besonders stark, aus folgendem Grund: Ein Todesopfer kann die Miliz beerdigen und ersetzen. Ein Versehrter bleibt. Gerade in einem so gebeutelten Land wie dem Libanon wird ein so schwer an Händen, Augen, Hüfte Geschädigter weder sich noch seine Familie ernähren können. Er muss ein Leben lang von der Organisation unterstützt werden, finanziell und moralisch. Und dieser Akt der Weiterversorgung wird auch zu einer Gelegenheit für den Gegner, weitere Informationen zu sammeln.

Auch jetzt bereits?

Bislang hat Hisbollah alles versucht, um es Israel unmöglich zu machen, seine Netzwerke zu enttarnen. Alles lief so verdeckt ab, wie nur möglich.

Bis vorgestern.

Vorgestern hingen alle am Telefon: “Wie geht es dir?” Natürlich, nach all diesen Anschlägen auf so viele Menschen wurden zehntausende Telefonanrufe getätigt. Alle waren aufgescheucht, jeder hat nachgefragt. Leute sind in Krankenhäuser gegangen, um Versorgung zu organisieren. Alles sichtbar. Zudem zwangen die Explosionen die Miliz, sich nun doch wieder auf ihre eher unsicheren Handys zur Kommunikation zu verlassen. Die beiden Anschläge der letzten Tage haben eine große Lücke im Sicherheitsnetz der Hisbollah offenbart. Was aber der israelische Geheimdienst seitdem an Informationen über die Strukturen innerhalb der Hisbollah gesammelt haben wird, das hat eine ganz andere Dimension.

Mit Jannis Grimm sprach Frauke Niemeyer

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