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Leverkusens 2:2 gegen Leipzig: Wirtz entwickelt sich von einem Spiel zum nächsten – Sport | ABC-Z

Einen genialen Moment hatte Xavi Simons dann doch noch im Fuß, in der 85. Minute der Leipziger Partie gegen den Deutschen Meister Bayer Leverkusen. Als er im Halbfeld einen Freistoß in den Strafraum der Gäste trat und die Flanke so perfekt temperierte, dass es letztlich einerlei war, wer danach den Ball ins Tor zum 2:2-Endstand bugsierte (es war schließlich Leverkusens Edmond Tapsoba per Eigentor). Die Augenweide war und blieb Simons fließende Bewegung, sein Entschluss, sich perfekt getimt in die Rücklage zu begeben; wie der Fuß in der Luft nachhing, als ob er dem Ball noch zur Sicherheit die Koordinaten hinterher flüstern würde. Dann drehte Simon sich brüllend ab, und was er herausschrie, hatte womöglich auch etwas mit Frust zu tun.

Der Anzeigentafel zufolge gab es in dem überaus würdigen Spitzenduell des Tages keinen Sieger; auf der Mikroebene waren hingegen schon Gewinner zu begutachten: Bundestrainer Julian Nagelsmann, der eine beeindruckende Vorstellung (und ein Freistoßtor) von Leipzigs Linksverteidiger David Raum sowie einen Weltklasse-Auftritt von Florian Wirtz sah. Und ebendieser Wirtz selbst. Denn er gewann das Duell zweier Spieler, die das Potenzial haben, zu prägenden Figuren in der Zukunft des Fußballs zu werden: das Duell gegen den gleichaltrigen, technisch ähnlich begabten Leipziger Xavi Simons.

Es gab im Grunde keine relevante Statistik, in der Wirtz, 21, nicht überlegen gewesen wäre. Dass er die Vorlagen zu den Toren von Patrik Schick (18. Minute) und Aleix García (36.) lieferte und dreimal den Pfosten traf, das war das eine. Das andere: Gemäß den Erhebungen des Fachmagazins Kicker legte Wirtz eine leicht längere Laufstrecke zurück als Simons (11,5 zu 10,9 Kilometer), zeigte eine höhere Genauigkeit bei den Pässen (93 zu 84 Prozent) und gewann eine höhere Anzahl an Zweikämpfen (59 zu 29 Prozent) als der Niederländer. Ihm bei der Arbeit zuzuschauen, sei eine „Verwunderbarung“, wortschöpfte Leverkusens Torwart Lukas Hradecky.

„Manche denken, dass das in der Bundesliga läuft wie auf der Playstation. Aber das ist nicht so einfach, das ist schon Kunst, das ist Weltklasse, was der gerade zeigt“, präzisierte der Schlussmann in der Mixed Zone. So famos war Wirtz’ Leistung, dass Leipzigs Trainer Marco Rose den Fußball-Patrioten herauskehrte, als er auf den Nationalspieler angesprochen wurde: „Ich glaube, dass wir uns als Fußballdeutsche sehr glücklich schätzen dürfen, dass wir so einen Fußballer in unseren Reihen haben. Ich gratuliere Xabi zu so einem tollen Spieler.“

Komplimente für Leverkusens Florian Wirtz von allen Seiten

Die Geschichte hat ihr Urteil über die (neben Bayerns Jamal Musiala) aufregendsten Nachwuchskräften der Bundesliga aber noch lange nicht gesprochen. Am Samstag allerdings drängte sich der Eindruck auf, dass die Entwicklungsschritte, die Wirtz hinlegt, erkennbarer und schneller erfolgen als bei Simons. Zwar sagte der unlängst, dass um die Jahreswende ein „neuer“ Xavi Simons geboren sei. Am Samstag aber weckte der Niederländer im Gegenschnitt zu Wirtz die Erinnerung an jene Fundamentalkritik, die der niederländische Bondscoach Ronald Koeman vor knapp einem Jahr äußerte: „Er macht es zu kompliziert.“ Wirtz hingegen scheint imstande zu sein, sich von heute auf morgen zu verändern. Oder: von einem Spiel zum nächsten.

Ihm sei wohl bewusst, dass die Gegner versuchen, Wirtz’ „Mindset“ aus dem Gleichgewicht zu bringen, erklärte Leverkusens Trainer Xabi Alonso, und das ist keine Banalität, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass er nach der 1:2-Champions-League-Niederlage von Madrid gesagt hatte, dass „das Emotionale das Fußballerische beeinflusst“. Hinsichtlich der Attitüde der Leipziger hatte Alonso zwar keinerlei Beschwerden („alles Fairplay!“); mindestens eine kleine Szene, in der es ein Leipziger darauf anlegte, Wirtz zu stressen und damit aus dem Spiel zu nehmen, gab es aber schon.

Gegen Leverkusen drängte sich der Eindruck auf, dass die Entwicklungsschritte, die Florian Wirtz hinlegt, erkennbarer und schneller erfolgen als bei Xavi Simons. (Foto: Stuart Franklin/Getty Images)

Eine kleine Rempelei an der Außenlinie führte dazu, dass Leipzigs Kapitän Willi Orban den Leverkusener ostentativ zur Rede stellte, seine Stirn an die Stirn der „Nummer zehn“ des deutschen Meisters legte, ihm ein paar unfreundliche Takte sagte. In Madrid gab er den Provokationen nach; gegen Leipzig hingegen habe Wirtz „die richtige Antwort gegeben“, sagte Leverkusens Torwart Lukas Hradecky.

Im Detail hieß dies, dass er Orban austanzte, den grätschenden Arthur Vermeeren ins Leere schickte und dann den ersten seiner Pfostentreffer landete, sich dann aber freuen konnte, dass Schick den Abpraller ins nahezu leere Tor schoss. In seiner Machart erinnerte die Szene an so manche Sequenz aus dem Œuvre des Lionel Messi, der sich einen Spaß daraus machte, Affronts von Gegenspielern durch Geniestreiche abzustrafen. Alonso applaudierte verbal: Perspektivisch betrachtet sei es „sehr wichtig“, dass Wirtz nach dem Disput mit Orban „sofort seine emotionale Kontrolle wiedererlangte“. So gesehen sei die Partie bei Atlético „ein guter Unterricht“ für Wirtz gewesen.

Am Ende aber stand auch (oder dennoch), dass Wirtz es bei „vier, fünf Toptoptop-Weltklasse-Aktionen“ beließ – und nicht ins Tor traf. Oder: dass Leverkusen zum zweiten Mal in vier Tagen Überlegenheit und Vorsprung aus der Hand gab. Die Folge ist, dass Leverkusen nun in der Tabelle sechs Punkte hinter dem Branchenprimus FC Bayern auf Platz zwei liegt.

Was für ein Abgrund das ist, zeigt ein Blick in die Statistik. In den vergangenen zehn Jahren gab es nur zwei Fälle, in denen der jeweilige Spitzenreiter des 19. Spieltags noch die Meisterschaft aus der Hand gab: RB Leipzig in der Saison 2019/20 (ein Punkt Vorsprung auf den späteren Meister FC Bayern), und Borussia Dortmund in der Spielzeit 2018/19 (sechs Zähler). Der erste Blick auf die Tabelle verströmt also ein Aroma der Uneinholbarkeit, gegen das sich nicht andiskutieren lässt. Es sei denn, es zeigt sich ab sofort, dass Lothar Matthäus recht hatte, als er Wirtz dieser Tage als „einen der drei besten Spieler der Welt“ adelte. Denn die zeigen sich immer, und immer dann, wenn es auf sie ankommt.

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