„Leigh Bowery!“ in London: Er war so frei | ABC-Z

An und durch Leigh Bowery verschmolzen, und das ist
wörtlich zu nehmen, avantgardistisches Modedesign, Performancekunst, Partyleben
und Hedonismus zu einer exzessiven Selbstdarstellung. Dem Maler Lucian
Freud lag und stand der in seinen letzten Jahren übergewichtige Bowery mehrfach
Modell, die Beine lässig gespreizt, seinen Penis platzierte er im Mittelpunkt von mehr als
einem Gemälde. Nun ehrt die Tate Modern in London das
Gesamtkunstwerk Leigh Bowerys mit einer großen
Retrospektive.
Die Ausstellung folgt den Jahren von Bowery in London und damit der Entwicklung seines Schaffens. Anfangs scheint sich der junge Modedesigner
seine Stoffe aus Altkleiderresten, Secondhand-Läden und bei indischen
Stoffhändlern zusammengesucht zu haben. Ein Video in der Tate Modern zeigt ihn, wie er sich in den
frühen Achtzigerjahren auf eine Club-Nacht vorbereitet. Bowery trägt darin ein
Gewand, das an eine weite Toga erinnert, er könnte, darauf deutet das blau-grün
karierte Muster des Stoffes hin, ursprünglich auch eine Patchwork-Tagesdecke gewesen
sein. Dazu hat er sein Gesicht und seine Hände ozeanblau
gefärbt und eine Mütze aufgesetzt, wie sie früher zur Ausgehuniform der Marine
gehört haben mag. Mit derselben Mütze, aber in einem grünen Frottee-Oberteil und
mit einem Ausschnitt, der seine gesamte, in Farbe getunkte Brust freilegte,
wurde Bowery auch im Londoner Kultmagazin The Face abgebildet. Eine
Ausstellung über The Face
Magazine: Culture Shift läuft derzeit in der National Portrait Gallery.
Kennzeichnend für Bowery war, dass er sich mindestens sein Gesicht bemalte oder grell schminkte. Es gibt Aufnahmen, auf denen sein Kopf kahl rasiert
und knallgelb ist und er eine zweite Farbe vom Scheitelpunkt hat herabfließen lassen, bis sich ein vielstrahliger Stern gebildet hat. In der
Anfangszeit, wenn er nicht das Geld für Schminke hatte, benutzte er auch
Wasserfarben.
Für seine Outfits hat Bowery im Verlauf der Jahre zunehmend Elemente
von Kleidern und Anzügen miteinander kombiniert, sie mit Rüschen und Tüll geschmückt oder mit Pailletten oder auch mit Haarnadeln akzentuiert. Viele
seiner Designs sind in den Räumen der Tate im Original zu sehen, es ist, als
gingen die Besucherinnen und Besucher durch einen Showroom nach dem anderen, von
Kollektion zu Kollektion. Wobei es das Wort nicht wirklich
trifft, Bowery fertigte praktisch ausschließlich Einzelstücke und entwickelte
einen neuen „Look“ nicht selten organisch aus seinem vorherigen. Insofern können
die Besucher anhand der Designs recht unmittelbar nachvollziehen, wie ungehemmt
Bowery mit den damaligen Konventionen in der Mode, mit dem Körper, den
Geschlechtern und generell mit Identität spielte, auch wenn er von sich selbst
sagte, er sei kein Gender-Bender, er sei niemand, der sich in seinem Mannsein
unwohl fühle.
Es ist möglich, die Ausstellung über Leigh Bowery zu
besuchen und die aktuelle Weltlage auszublenden. Aber es wäre absurd. Das
Schaffen des avantgardistischen Modedesigners und Aktionskünstlers wirkt wie
ein zugespitzter Kommentar zum Hier und Jetzt.
Bowery verkörpert das, was Putin an Europa verachtet und er
in Russland wegsperren lässt, wenn es allzu sichtbar wird. Genauso ist der
Künstler ein Sinnbild für das, was Donald Trump aus der offiziellen Sprache
tilgen lässt: das Fluide, das Menschsein jenseits des biologischen 1 und 0,
Mann und Frau (oder umgekehrt). Kurzum, Bowery ist ein Sinnbild dafür, was
für eine Vielfalt eine liberale Gesellschaft hervorbringen kann, und die Tate Modern stellt dafür genau jetzt ihre Bühne bereit.
Der in Australien geborene Bowery war ein Outlier in seiner Zeit,
ein Sonderfall und weitgehender Autodidakt. Nach nur einem Jahr am Royal
Melbourne Institute of Technology brach er sein Mode- und Designstudium ab und
zog 1980 nach London, um dort Nacht für Nacht in den Schwulenclubs und
-diskotheken der Stadt zu tanzen und Sex zu haben. In den ersten Jahren
finanzierte er das mit einem Job bei Burger King und schneiderte ab und zu
etwas für Freunde. Doch schon 1985 war er eine Szenegröße, die gebeten wurde,
einen Club mitzueröffnen, das bald legendäre Taboo. Dem Club und der sich dort
versammelnden Mode- und Musikszene hat das Londoner Textile Museum kürzlich
ebenfalls eine Ausstellung gewidmet (Outlaws:
Fashion Renegades of 80s London, bis 9. März). Sich selbst nannte Bowery einen
„Weirdo“, aber sich von diesem Begriff leiten zu lassen hieße, seinen Einfluss
auf Modedesigner wie Alexander McQueen, Paul Gaultier und John Galliano zu
ignorieren. Der Sänger Boy George nannte ihn „modern art on legs“ und ließ sich von ihm einkleiden.
Viele von Bowerys späteren Entwürfen hören nicht am Kragen
auf, sondern gehen in Masken über. Bowery umhüllte Kopf und Gesicht und machte
sie zum Bestandteil seiner modischen Ganzkörperskulpturen. Generell wurden
seine Entwürfe über die Jahre immer breiter, expressiver und viele von ihnen
erinnerten schließlich an Installationen, in die Bowery seinen Körper zwängte.
Anfang der Neunzigerjahre steigerte er dieses Konzept, dass er
eine seiner letzten Kollektionen der „Plastic Surgery“ widmete, als
konsequenten nächsten Schritt, nicht nur das Äußere, sondern den ganzen Körper
dem gestalterischen Willen des Menschen zu unterwerfen. Mal verbreiterte Bowery
mit seinen Entwürfen auf krasse Weise seine Hüfte, mal applizierte er sich
Riesenbrüste oder markierte den Mund auf seinen Masken mit absurd aufgeplusterten
Lippen.
Hier nahm Bowery ein Heute vorweg, in dem Menschen willens
und in der Lage sind, ihr Inneres und ihr Äußeres in einer Weise anzugleichen
wie nie zuvor, ihre Sehnsüchte beim Chirurgen in Silhouetten verwandeln zu
lassen und ihr tägliches Outfit dem Seelenzustand anzupassen. Was damals einem Künstler
und Modedesigner vorbehalten war, ist heute allgegenwärtig, kommerzialisiert und
für nahezu jeden erschwinglich. Und was Bowery seine Clubabende waren, ist
heute die Bubble in sozialen Netzwerken, seine Masken erinnern an all die
Filter, die sich die Nutzerinnen und Nutzer dort übers Gesicht ziehen. In
diesem Sinne ragt das Werk von Leigh Bowery bis weit in die Gegenwart.
Er selbst starb 1994 an HIV, und seine langjährige Freundin
Sue Tilly schreibt in ihrer Biografie Leigh
Bowery. The Life and Times of an Icon, dass die Diagnose im Jahr 1988 seine
intensivste Schaffensperiode einläutete. Viele seiner Entwürfe und einige
seiner auf Video archivierten Performances hat die Tate Modern nun zusammengeführt.
Es ist eine grelle, bunte Schau, und jeder Besucher kann unmittelbar
erkennen, wie frei der Geist gewesen ist, der diese Designs vor 30 Jahren geschaffen
hat.
„Leigh Bowery!“ ist in der Tate Modern, Bankside, London SE1
9TG seit dem vergangenen Wochenende zu sehen. Die Ausstellung läuft bis zum 31.
August. Eintritt: 18 Pfund.