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Leichtathletik-WM und Schulsport: Keine Siegerurkunden, keine Medaillen? – “Da liegt Merz völlig falsch” | ABC-Z


interview

Stand: 11.09.2025 18:31 Uhr

Die deutschen Leichtathleten sind bei der letzten WM im Medaillenspiegel abgestürzt. Liegt das auch daran, dass im Sportunterricht die Leistung nicht mehr zählt, wie Bundeskanzler Friedrich Merz behauptet? Der Sportpädagoge Rüdiger Heim widerspricht im Interview mit der Sportschau. 

Sportschau: Am kommenden Samstag beginnen die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Tokio. Bei der WM vor zwei Jahren in Budapest kam Deutschland im Medaillenspiegel auf Platz 47. Können die Deutschen nicht mehr schnell laufen, weit werfen und springen?

Rüdiger Heim: Für den Medaillenabsturz gibt es unterschiedliche Erklärungen, eine wichtige ist die demographische Entwicklung, die nicht nur die Renten und die Facharbeiter betrifft. Nehmen wir als Beispiel das Jahr 1983, in der Boomer-Generation gab es 15,8 Millionen Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren, 2024 waren es gerade einmal 8,3 Millionen. Die Zahl der Talente, aus die sich der Spitzensport entwickeln kann, ist um fast 50 Prozent zurückgegangen. Zudem hat sich die Zahl der aktiven Leichtathleten in den Vereinen, grob geschätzt, um rund zwei Drittel verringert.

Zur Person

Professor Rüdiger Heim, 65, ist Direktor des Instituts für Sport und Sportwissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt der Kinder- und Jugendsport und das Verhältnis zwischen Leistungssport und Schule.

Zwischen 2004 und 2006 führte er das Amt des Sprechers der Sektion Sportpädagogik bei der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft aus. 2007 wurde Heim Mitglied der Arbeitsgruppe “Bildungsstandards für das Fach Sport” im Auftrag der Kommission Sport der Kultusministerkonferenz. Seit 2017 ist er des Weiteren Chefredakteur der Zeitschrift für sportpädagogische Forschung und gehört seit 2012 dem Herausgeberkollektiv des Blatts an.

Zu den Schwerpunkten in Heims wissenschaftlicher Tätigkeit gehören unter anderem Forschungsarbeiten im Bereich Kinder- und Jugendsport (auch Hochleistungssport im Jugendalter), Schulsport, Aspekte des Sportlehrerberufes und das Verhältnis zwischen Leistungssport und Schule.

Sportschau: Anfang des Jahres hat CDU-Chef Friedrich Merz in einer Rede gefordert, dass Deutschland an die Spitze des Medaillenspiegels gehört, er hat kritisiert, dass Jugendlichen der Wille zur Spitzenleistung abhanden gekommen sei. Hat er Recht?

Heim: Ich weiß nicht, wie Merz darauf kommt. Aus der allgemeinen Jugendforschung wissen wir, dass der überwiegende Anteil, 80 bis 90 Prozent der Heranwachsenden, durchaus leistungsorientiert ist. Auch die empirischen Daten im Hinblick auf den Sport geben nicht her, dass sich die Einstellung der Jugendlichen zur Leistung gravierend geändert hat.

“Bundesjugendspiele waren nie Feste des Leistungssports”

Sportschau: Merz hat die Fehlentwicklung an der Reform der Bundesjugendspiele festgemacht, er moniert, dass es bei diesem Sportfest an den Schulen nur noch Teilnehmer- und keine Siegerurkunden mehr gibt. 

Heim: Das ist zunächst einmal völlig falsch: Es gibt weiterhin Ehren- und Siegerurkunden. Die falsche Behauptung zeugt zudem von einer pädagogischen Ahnungslosigkeit, das wäre etwa so, als wenn wir die Zahl der Störche im Sauerland mit der Zahl der dortigen Geburten in Verbindung bringen würden. Bundesjugendspiele waren nie Feste des Leistungssports. Ich hätte als Jugendlicher die Wand meines Zimmers mit unzähligen Ehrenurkunden der Bundesjugendspiele tapezieren können, habe es aber nur zu einem drittklassigen Volleyballer gebracht. Zudem sind in Deutschland die Vereine die Basis des Leistungssports, nicht die Schulen wie in den USA.

Sportschau: Was war das Ziel der Reform der Bundesjugendspiele? 

Heim:  Der Ausschuss, der die Reform für die beiden ersten Klassen der Grundschule erarbeitet hat, wollte die Attraktivität der Bundesjugendspiele erhöhen und die Kinder altersgemäß vorsichtig an sportliche Vergleiche heranführen.

“Die Kinder sollen nicht mehr so lange rumstehen”

Sportschau: Hinter Merz’ Kritik steckt der Gedanke, dass im Sportunterricht generell keine Leistung mehr gefragt ist. Stimmt diese Einschätzung?

Heim: Moderner Sportunterricht verfolgt verschiedene Ziele: er soll einerseits jungen Menschen Rechnung tragen, die sich im Wettkampf vergleichen wollen. Aber andere suchen Geselligkeit, wollen ihre sozialen Kontakte pflegen, für ihre Gesundheit etwas Gutes tun oder ihre Fitness verbessern. Genau diese Vielfalt bedient der Sportunterricht.

Sportschau: Auch der ehemalige IOC-Präsident Thomas Bach hat kritisiert, dass der Wettkampf in Grundschulen abgeschafft werde, die “pure Anstrengung würde abgewürgt”.

Heim: Es wurden mit der Reform der Bundesjugendspiele ein paar vorsichtige Veränderungen vorgenommen, natürlich besteht weiter das Ziel, möglichst schnell zu laufen oder zu springen. Aber die Weite wird in Zonen gemessen und mit unterschiedlichen Punkten versehen. Damit will man die Wartezeit im Wettkampf erheblich reduzieren. Die Kinder sollen nicht mehr so lange rumstehen und sich langweilen, während man jeden Sprung mit dem Maßband nachmisst.

Sportschau: Sollten Schulen nicht den Auftrag haben, Höchstleistung im Sport zu fördern?

Heim: Im Deutschunterricht wird ja auch nicht erwartet, die Kinder für den Georg-Büchner-Preis vorzubereiten oder in Physik für den Nobelpreis. Schülerinnen und Schüler sollen auf das vorbereitet werden, was sie im Leben erwartet. 

“Kein Interesse an Studien zum Schulsport”

Sportschau: Wie sieht es generell aus mit dem Sportunterricht in deutschen Schulen aus?

Heim: Über die aktuelle Situation wissen wir eigentlich überhaupt nichts. Der Bund und die Länder haben kein Interesse an der Förderung entsprechender Studien. Ich kann ein Lied davon singen, wie die Kultusministerien alle Initiativen mehr oder weniger mit Achselzucken an sich abtropfen lassen, das Gleiche gilt für die großen privaten Stiftungen. Die letzte und einzige verlässliche Studie für Deutschland stammt aus dem Jahr 2006, ist also fast 20 Jahre alt. Damals bekam der Sportunterricht eine gute Note. Die Schülerinnen und Schüler fühlten sich wohler als in der Schule insgesamt, sie erlebten ihren Sportunterricht als abwechslungsreich, intensiv und körperlich anstrengend.

Sportschau: Oft wird beklagt, dass Schülerinnen und Schüler nur noch daddeln und sich nicht mehr gern bewegen wollen. Wie ist es um die körperliche Verfassung bestellt?

Heim: Ich kenne aus der Presse die Klagen über die generelle Verschlechterung der sportlichen Leistungsfähigkeit, viele Jugendliche könnten nicht einmal mehr rückwärts laufen. Aber die Studien sind widersprüchlich, manche vergleichen Äpfel mit Birnen. Einen generellen Trend gibt es nicht. Was wir aber sicher wissen: Eine schlechte soziale Lage und ein Migrationshintergrund haben negativen Einfluss auf die motorische Leistungsfähigkeit. Benachteiligte Heranwachsenden sind weniger gesund, verfügen über eine geringere Leistungsfähigkeit und sind deutlich seltener in Sportvereinen aktiv. Und es gibt keine Anzeichen, dass sich das in näherer Zukunft ändern würde.

“Es gibt keinen Königsweg”

Sportschau: Müssen wir uns daran gewöhnen, dass es in Traditionssportarten wie der Leichtathletik einen dauerhaften Abwärtstrend gibt?

Heim: Vermutlich ja, aus Studien wissen wir, dass die Leichtathletik eine typische Einstiegssportart im Kindesalter ist. Die Jugendlichen wechseln dann aber zu anderen Sportarten, insbesondere den großen Sportspielen wie Fußball oder Basketball.  Auch erreicht die Leichtathletik offenbar deutlich seltener sozial benachteiligte Jugendliche, das hat sie mit wenigen anderen Sportarten gemeinsam wie Reiten oder Tennis.

Sportschau: Wenn Bundeskanzler März der Medaillenspiegel so wichtig ist, was könnte er denn tun, um die Jugend wieder nach vorne zu bringen?

Heim: Es gibt keinen Königsweg, auf den wir uns mit einer kurzen politischen Entscheidung begeben könnten. Sportliche Höchstleistung ist ein sehr sehr komplexer Prozess. Ein Journalist hat einmal den Begriff der “genetischen Freaks für Höchstleistungssportler benutzt. Aber das Talent, die Genetik ist nur die Voraussetzung für Erfolge. Der Weg zum Weltmeister ist sehr langwierig, auf dem ich ganz viele falsche Entscheidungen treffen kann. Weltweit gültige Rezepte für mehr Medaillen könnte ich nicht formulieren.

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