Lebenserwartung von Walen unterschätzt: Werden Wale viel älter als fiktiv? – Wissen | ABC-Z
Die Lebenserwartung vieler Wale wird offenbar systematisch unterschätzt: Zu diesem Schluss kommt ein internationales Forschungsteam in der Wissenschaftszeitschrift Science Advances. Ihm zufolge könnten Südkapern, eine Walart aus der Familie der Glattwale, mehr als 130 Jahre und möglicherweise auch 150 Jahre alt werden und nicht nur maximal 75, wie bisher vermutet.
Die Altersschätzung von Walen ist schwierig: Oft basiert sie bei Zahnwalen auf Untersuchungen von Zähnen, bei Bartenwalen dagegen auf Analysen der Lagen von Ohrenschmalz. Daher wusste man bereits, dass Blauwale und Finnwale mehr als 100 Jahre alt werden können. Grönlandwale (Balaena mysticetus) übertreffen dies sogar noch deutlich: Schätzungen reichen hier von mehr als 150 Jahren bis – in einem Fall – 211 Jahren. Das wäre unter Säugetieren ein Rekord. Bei anderen Walen, so schreibt die Gruppe um Greg Breed von der University of Alaska in Fairbanks, werde die Lebenserwartung bislang jedoch deutlich unterschätzt. Viele Arten haben demnach an Zähnen oder Ohrenschmalz keine zählbaren Jahresschichten, und bei den übrigen seien diese Lagen gerade bei alten Tieren schwer zu analysieren.
Erschwert werde die Ermittlung der Lebenserwartung einer Art vor allem aber durch den Walfang, der bis vor grob 60 Jahren die Populationen extrem dezimiert habe: Ein heute mehr als 100 Jahre alter Wal müsste den intensiven Walfang mindestens 40 Jahre lang überlebt haben, ein 150-jähriges Individuum sogar 90 Jahre, heißt es in der Studie.
Da die Waljagd die meisten Populationen auf unter zehn Prozent ihrer ursprünglichen Bestände dezimiert habe, seien solche Individuen äußerst selten, falls überhaupt noch vorhanden. Überdies, schreibt das Team, stammten die meisten Altersschätzungen von japanischen Walfängern und aus der Mitte des 20. Jahrhunderts – also aus jener Zeit, als ein Großteil der Walpopulationen extrem gestört war.
Die tatsächliche Lebenserwartung ist bei verschiedenen Walarten sehr unterschiedlich
Das Team nutzte nun eine andere Methode, um das Alter von Walen zu schätzen. Diese stützt sich darauf, wann bei wissenschaftlich beobachteten Walpopulationen bestimmte Individuen verschwanden. Daraus lasse sich die Sterblichkeit verschiedener Altersgruppen ableiten und auch, welcher Anteil einer Population bis zu einem bestimmten Alter überlebt.
Das testete die Gruppe an dem auf der Südhalbkugel lebenden Südkaper (Eubalaena australis) und dem eng verwandten Atlantischen Nordkaper (Eubalaena glacialis). Für Populationen beider Arten gibt es detaillierte Beobachtungen, die bis in die 1970er Jahre zurückgehen. Bisher wurde die maximale Lebenserwartung der zwei Spezies auf 70 bis 75 Jahre geschätzt. Den Kalkulationen der Gruppe zufolge entspricht dies jedoch der mittleren Lebenserwartung beim Südkaper, die bei 73 Jahren liegt. Zehn Prozent dieser Tiere würden sogar mehr als 130 Jahre alt, also über 50 Jahre älter als bisher gedacht. Ein längeres Leben sei unter Säugetieren nur von Grönlandwalen bekannt – die wie Nord- und Südkaper ebenfalls zu den Glattwalen (Balaenidae) zählen.
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Dagegen wird der vom Aussterben bedrohte Atlantische Nordkaper, auch Nordatlantischer Glattwal genannt, der Studie zufolge im Mittel nur etwa 22 Jahre alt. Jedes zehnte Tier erreicht demnach mehr als 47 Jahre. Diese auffällig kurze Lebensspanne führen die Autoren jedoch vor allem auf den Einfluss des Menschen zurück. „Sie verfangen sich regelmäßig in Fischereiausrüstung oder kollidieren mit Schiffen“, erläutert Breed. „Und sie leiden Hunger, was möglicherweise mit Umweltveränderungen zusammenhängt, die wir nicht ganz verstehen.“ Laut Weltnaturschutzunion IUCN leben nur noch etwa 200 bis 250 Tiere dieser Art.
In der Studie verweist das Team auf eine sehr hohe Sterblichkeit beim Nordkaper: Die geringste Sterberisiko liege mit knapp 2,7 Prozent im fünften Lebensjahr und sei fünfmal höher als bei gleichaltrigen Südkapern. Diese erreichten eine so hohe Sterberate erst im 102. Lebensjahr. Trotz der Diskrepanz in der derzeitigen Lebenserwartung geht das Team davon aus, dass beide Arten aufgrund ihrer sehr engen Verwandtschaft grundsätzlich ähnlich alt werden können.
Unter natürlichen Bedingungen könnten Wale generell älter werden als bisher angenommen, betont die Gruppe und verweist als Beispiel auf Studien an Grönlandwalen, Narwalen und Belugas, auch Weißwale genannt: Bei ihnen sei eine hohe Lebenserwartung dokumentiert. Diese drei die Arktis bewohnenden Arten seien im Vergleich zu anderen einem geringeren Jagddruck ausgesetzt gewesen.