Laurie Andersons musikalische Hommage an Amelia Earhart | ABC-Z
Obwohl sie viele Instrumente beherrscht, bleibt Laurie Andersons bevorzugtes ihre Stimme. Seit mehr als vierzig Jahren erhebt sie das „Storytelling“ zu einer Kunstform. Dabei schwankt ihr Singsang zwischen lässiger Slam-Poetry, formalem Nachrichtentonfall, zweifelndem Fragen und intimem Flüstern. In ihren mäandernden Geschichten zelebriert sie die Sätze und Wörter regelrecht, zieht sie wie eine Illusionistin mit hörbarem Vergnügen überraschend hervor, wendet sie hin und her und verleiht ihnen schlussendlich eine verführerische Tönung.
Gerade erst avancierte Anderson zur Tiktok-Ikone wider Willen: Ihr Überraschungshit „O Superman“ von 1981 ging plötzlich viral. Song-Zeilen wie „You don’t know me, but I know you, and I’ve got a message to give to you“ trafen exakt das Selbstverständnis von Millionen Tiktok-Nutzern: Selbstdarstellung und geheimnisvolle Inszenierung zugleich. Der elektronisch verfremdete Gesang, wie von einem Roboter erzeugt, schien perfekt das gespenstische Zugleich von vergänglichen Selbstbildnissen und ein bisschen Berühmtheit zu illustrieren. Dabei lautet die unterschwellige Botschaft von Andersons Vocoder-Stimme: Keine Technologie kann uns retten!
Ein knallharter Typus als Vorbild
Das Dauerthema, wie Menschen und Technologie sich verbinden können, prägt auch ihr neues Album „Amelia“. Zugleich demonstriert es Andersons Gespür für den richtigen Tonfall und die Sinnlichkeit von Sprache. Halb Hörspiel, halb Songzyklus: Die zweiundzwanzig Stücke auf „Amelia“ ranken sich um den letzten Flug der Flugpionierin und nimmermüden Frauenrechtlerin Amelia Earhart 1937.
Schon als junges Mädchen war Anderson von Earharts Flugabenteuern fasziniert. Mit ihrem Mut und ihrer selbstbestimmten Art muss sie auf die Schülerin ungeheuer anziehend gewirkt haben. Sie sah in Amelia jenen knallharten Typus, den sie selbst als Jugendliche auch gern verkörpert hätte. „Sie sagte sich, wenn ich meinen Flug rund um die Welt schaffe, dann schaffe ich es vielleicht auch, dass Mädchen in den Schulen am Werkunterricht teilnehmen und nicht länger als technisch unbegabt stigmatisiert werden.“ In ihrer Jugend ging Amelia am liebsten mit einem Luftgewehr auf Rattenjagd, kletterte auf die höchsten Bäume und sammelte Zeitungsartikel über Frauen in Männerberufen. Später arbeitete sie als Sozialarbeiterin und Lehrerin und in weiteren sechsundzwanzig Jobs. Gegen alle Widerstände ihrer Umwelt wurde sie letztendlich Berufspilotin. Immer wieder betonte sie, dass sie ihre Popularität dazu nutzen wolle, „Frauen aus dem Käfig ihres Geschlechts herauszuholen“.
Als Kind in den Himmel verliebt
Der Himmel wurde für Amelia bald zum natürlichen Lebenselement. Auch hier sieht Anderson persönliche Parallelen: „Schon als Kind habe ich mich in den Himmel verliebt, in seine Schönheit, die Freiheit, die er verheißt – so als könnte ich für immer darin herumschweben“, wie sie kürzlich im BBC Radio 4 bekannte. Gleichzeitig spürte sie das verlockende Abenteuer eines solchen Blindflugs: „Ich erinnere mich noch gut an den rauschhaften Zustand, wenn ich in das Dunkel lief – mit ausgebreiteten Armen wie ein Flugzeug, mit geschlossenen Augen, immer weiter rennend.“
1932 – fünf Jahre nach Charles Lindbergh – hatte Earhart als erste Frau im Alleinflug den Atlantik überquert. Am 21. Mai 1937 brach sie in Miami zu einer Weltumrundung am Äquator auf – damals ein wahnwitziges Unterfangen. Am 2. Juli wollte sie von Neuguinea aus ihren letzten Streckenabschnitt, den Pazifik, hinter sich bringen. Die kleine Howlandinsel hatte Amelia für einen letzten Zwischenstopp avisiert. Leider kam sie dort nie an. Nach wochenlanger Suche mit vierundsechzig Flugzeugen und acht Kriegsschiffen – der bis dato größten Suchaktion in der Geschichte der Luftfahrt – stellte man die Nachforschungen ein.
Wo endete der Flug?
Amelia Earhart wurde für verschollen, „wahrscheinlich für tot“ erklärt. Das hinderte die Öffentlichkeit nicht daran, sich in wüsten Spekulationen über eine Notlandung auf Gardner Island, einem unbewohnten Atoll der Phönixinseln, und einer japanischen Gefangennahme von Earhart und ihrem Navigator auf dem Mini-Atoll zu ergehen. Über die Jahre wurde immer wieder versucht, das verschwundene Flugzeug zu finden. Erst im Januar dieses Jahres glaubte man, etwa 160 Kilometer vor der angesteuerten Howlandinsel zwischen Honolulu und Australien mithilfe eines Sonar-Signals das vermeintliche Wrack in einer Tiefe von rund 5000 Metern geortet zu haben Doch erst die Untersuchung mit einem Tauchroboter kann hier endgültig Aufschluss über den Verbleib der Unglücksmaschine liefern.
Seit der Premiere von „Amelia“ in der New Yorker Carnegie Hall im Jahr 2000 lässt Anderson das Schicksal der Flugfanatikerin nicht mehr los: In immer neuen Anläufen hat sie ihr Performanceprogramm erweitert und perfektioniert. Auf dem jetzt vorliegenden Album zitiert sie aus Earharts Pilotentagebüchern und den Telegrammen, die sie an ihren Mann schrieb. Zuallererst aber versucht sie, sich in verschwimmenden Traumbildern vorzustellen, woran eine Frau denkt, wenn sie um die Welt fliegt. Kommentiert, dann wieder konterkariert werden die warmen, weichen Melodiekonturen der Songs von turbulenten Streichersounds der Brünner Philharmonie unter der Leitung von Dennis Russell Davies. Daneben vertraut Anderson auf die Unterstützung durch die Sängerin Anohni, die Violinistin Martha Mooke, den Gitarristen Marc Ribot, den Bassisten Tony Scherr oder den Drummer Kenny Wolleson. Sie alle erzeugen eine Musik, die dynamisch genug ist, um gehört, gesehen, gefühlt und geschmeckt zu werden.
Reflexionen über Windgeschwindigkeiten, Wolkenformationen und Sonneneinstrahlungen wechseln mit Meditationen über die Farben des Himmels. Empfindungen der Leere und Weite von Wüstenformationen werden in wabernde Sounds übersetzt. Zwischen einer und vier Minuten schwankend, liefern die Klangminiaturen so etwas wie „sonic landscapes“, wie sie die Fliegerin imaginiert haben mag. Doch es gibt auch naturalistische Stücke: Während „Take Off“ die Geräusche der Startvorbereitung collagiert, versucht „Howard Island“ das Chaos des Funkverkehrs auf der fatalerweise falsch gewählten Frequenz des Navigators hörbar zu machen. Auch die Stimme von Amelia Earhart selbst ist zu hören: „This Modern World“ entpuppt sich als Mini-Vorlesung über die Benachteiligung von Frauen in technischen Berufen.
Unterschwellig scheint Laurie Anderson mit ihrem neuen Album an den Song „Amelia“ von Joni Mitchell aus dem Jahr 1976 anzuknüpfen. Mitchell vergleicht sich in ihrem Text, der keine Antworten findet und ohne Weiteres auch von Anderson stammen könnte, mit Earharts selbst gewähltem Schicksal: „Sie wurde vom Himmel verschluckt oder von der See, sie hatte wie ich, einen Traum vom Fliegen, wie Ikarus, der aufsteigt, auf wunderschönen, törichten Armen.“
Laurie Anderson: „Amelia“. Nonesuch (Warner) 0075597904765