Wohnen

Die Stadt sucht weiter nach dem Jungen | ABC-Z

Luftholen lautet das Thema des Gottesdienstes, den Pfarrerin Doris Volk-Brauer an diesem Sonntagvormittag in der Evangelischen Kirchengemeinde Weilburg abhält. Ihre Predigt soll Anlass zum Innehalten bieten. Entspannt sind die Gottesdienstbesucher nicht. Spätestens nicht mehr als Volk-Brauer den sechs Jahre alten Pawlos in ihrer Fürbitte erwähnt. „In unser Gebet nehmen wir auch Pawlos, seine Eltern und all die Menschen, die ihn mit so viel Einsatz und Hoffnung suchen“, sagt sie. Die Gemeinde erwidert ihre Fürbitte laut und bestimmt.

Sechs Tage sind an diesem Sonntag vergangen, seit der Erstklässler aus seiner Förderschule verschwunden ist. Rund um das evangelische Gemeindehaus hängen bunte Luftballons, an Gartenzäunen, an Laternenpfählen und Gebüschen. Falls er sich irgendwo versteckt, könnten sie die Neugier des autistischen Jungen wecken und ihn herauslocken, so die Hoffnung. Nach knapp einer Woche sind die Ballons schlaff und luftleer, manche sind geplatzt.

Seit Dienstag, dem 25. März wird Pawlos vermisst. Der Junge habe sich gegen 12.30 Uhr nach dem Mittagessen von seiner Klasse entfernt und das Schulgelände verlassen, heißt es in einer Mitteilung des Staatlichen Schulamts. Binnen einer Minute hätten die Lehrkräfte sein Fehlen bemerkt und daraufhin mit der Suche auf dem Gelände und den Straßen in der Umgebung begonnen. Nach einer Viertelstunde seien Polizei und Eltern informiert worden. Wie ein Sprecher des Staatlichen Schulamts der F.A.S. mitteilt, hat die Behörde den Vorfall an der Schule untersucht und kein Fehlverhalten oder eine Verletzung der Aufsichtspflicht festgestellt.

Nach seinem Verschwinden gefilmt: Diese Videoaufnahme des kleinen Pawlos ist das bisher letzte Bild von ihm.dpa

Wenig später geht eine Alarmierung bei Feuerwehr und Rettungsdienst ein. Die Polizei bittet sie bei der Suche um Amtshilfe. In den folgenden drei Tagen findet eine großangelegte Suchaktion statt. Die Kleinstadt und ihre Umgebung werden in Sektoren eingeteilt und systematisch abgesucht. Fachberater des Deutschen Roten Kreuzes werden zur Planung der Suche herangezogen. Am zweiten Tag sind bis zu 600 Kräfte von Polizei und ehrenamtlichen Hilfsorganisationen beteiligt. Rettungshunde, Pferdestaffeln und auch ein Hubschrauber der Polizei kommen zum Einsatz. Boote fahren mehrfach die Lahn ab. Bis zum Freitag ist die Suche nach dem Jungen vergeblich geblieben.

Nach dem Gottesdienst in der Evangelischen Kirchengemeinde gibt es Kaffee. Die Besucher kommen miteinander ins Gespräch. „Ich bete jeden Tag für ihn“, sagt eine ältere Frau in beiger Jacke über den Jungen. „Es muss schrecklich sein, für die Familie.“ Aber sie wolle nicht vom Schlimmsten ausgehen, sagt sie.

Zeuge filmt das vermisste Kind

„Die Bestürzung ist sehr groß, überall in der Stadt“, sagt eine andere Frau. Auf ihrem Handy öffnet sie ein Video, das von der Dashcam in einem Auto aufgenommen wurde. Es zeigt, wie ein Mann einen Jungen in gestreiftem Pullover von der dicht befahrenen Limburger Straße, nahe der Lahn führt. „Der Junge wirkt doch unbeholfen“, sagt die Frau mit dem Handy. „Ich verstehe nicht, warum er ihn einfach stehen lässt“, sagt sie.

Später bestätigt die Polizei, dass es sich bei dem Jungen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um den gesuchten Pawlos handelt. Der Mann, der ihm von der Straße geholfen habe, habe unmittelbar danach die Polizei verständigt, bis zu ihrem Eintreffen sei der Junge jedoch schon wieder verschwunden. Das Video ist bisher der letzte Hinweis auf Pawlos’ Aufenthaltsort und stammt vom Nachmittag seines Verschwindens.

Bunte Luftballons sollen den Jungen anlocken.
Bunte Luftballons sollen den Jungen anlocken.Carlotta Steinkamp

Von der großangelegten Suchaktion ist fünf Tage danach in Weilburg nichts mehr zu sehen. Und doch wird weiter gesucht. An diesem Sonntag sei noch immer eine zweistellige Zahl an Polizisten im Einsatz, welche die Stadt an „neuralgischen Punkten“ absuche, sagt ein Sprecher des Polizeipräsidiums Westhessen. Immer wieder fahren Streifenwagen die Straßen ab. Von der Steinernen Brücke aus, die über die Lahn in die Weilburger Altstadt führt, sind entfernt Menschen zu erkennen, die langsam das Flussufer abschreiten. Zwei Tage zuvor haben Taucher der Polizei und der Feuerwehr einen Abschnitt der Lahn nach dem Jungen abgesucht.

Der Marktplatz nahe dem Weilburger Schloss ist am Nachmittag wie leer gefegt. Immer wieder werde er von seinen Gästen auf den vermissten Jungen angesprochen, sagt der Betreiber einer Pizzeria – auch von Bürgern, die Pawlos in Eigeninitiative suchten. Die sozialen Medien seien voll mit Berichten. „Man fühlt sich hilflos“, sagt er. „Jeder hofft, dass der Junge gefunden wird, aber ein gutes Gefühl ist da nicht mehr.“

„Freiwillig verdursten wird ein Kind natürlich nicht“

Auch weil Pawlos schon so lange verschwunden ist, ist die Sorge in Weilburg groß. Kann er auf sich alleine gestellt überleben? Nahrung sei dabei kein großes Problem, sagt der Kinder- und Jugendarzt Burkhard Rodeck. „Man kann lange hungern.“ Das gelte auch für Kinder. Wichtiger sei die Frage, ob der Junge Zugang zu Wasser habe. Bei Erwachsenen werde es von drei bis vier Tagen an ohne Flüssigkeit kritisch, Kinder seien vulnerabler. „Freiwillig verdursten wird ein Kind natürlich nicht“, sagt Rodeck.

Auch ein Kind mit Autismus stille seinen Durst, wenn es eine Möglichkeit finde. „Im schlimmsten Fall würde es aus einer Pfütze trinken.“ Auch die Temperaturen können nach den Worten des Mediziners zum Problem werden. In den vergangenen Nächten sanken die Temperaturen in Weilburg nachts immer wieder auf den Nullpunkt. „Hat er einen Unterschlupf, in dem er sich verkriecht, kann er sich mit Laub eindecken?“ Auch hier könne man nur spekulieren.

Pawlos’ Verschwinden erinnert an den Fall des gleichaltrigen Arian. Auch er war autistisch veranlagt. Im April 2024 ist er im niedersächsischen Bremervörde aus seinem Elternhaus verschwunden. Rund eine Woche suchten Hunderte Einsatzkräfte nach dem Jungen. Zwei Monate später fand ein Landwirt dessen Leiche bei Mäharbeiten auf einer Wiese etwa zwei Kilometer von seinem Wohnort entfernt. Hinweise auf ein Fremdverschulden gab es laut den Behörden nicht.

Als Autist hat Pawlos Probleme mit sozialer Interaktion

Nicht jeder Autist habe einen Hang zum Weglaufen, erklärt Christine Freitag. Sie ist Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Frankfurt. Dort leitet sie auch das angegliederte Forschungs- und Therapiezentrum für Autismus. Allgemein hätten Betroffene Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion, sagt sie. Verbales und non-verbales Kommunizieren falle ihnen in der Regel schwer.

Ungefähr die Hälfte der Menschen mit Autismus habe darüber hinaus eine Intelligenzminderung. „Das sind Kinder, die hinsichtlich ihrer alltagspraktischen Fertigkeiten deutlich eingeschränkt sind“, sagt sie. Wie konkret diese Einschränkungen sind, hänge vom Grad der Intelligenzminderung sowie von zusätzlichen Symptomen ab, wie Ängsten, aggressivem Verhalten oder auch Hyperaktivität.

Wenn autistische Kinder wegliefen, hänge das oft mit einer Intelligenzminderung zusammen. „Das ist eine Gruppe, die Gefahren schlecht einschätzen kann“, sagt Freitag. Außerdem könnten äußere Reize, wie Lärm oder eine Ansammlung von Menschen, bei manchen Autisten eine Fluchtreaktion auslösen. Das liege auch an den Kommunikationsproblemen: „Sie können nicht gut äußern, dass es ihnen zum Beispiel zu laut ist und dass sie aus der Situation wegwollen“. Dass sich ein Kind mit Autismus versteckt, hält Freitag für unwahrscheinlich. Eher habe es sich verlaufen und sei desorientiert. Man dürfe außerdem nicht davon ausgehen, dass das Kind im Falle von Durst und Hunger Hilfe bei fremden Menschen suche.

Hilfe aus Nordrhein-Westfalen: Die Bundeswehr setzte Eurofighter ein, um aus der Luft nach dem vermissten Jungen zu suchen.
Hilfe aus Nordrhein-Westfalen: Die Bundeswehr setzte Eurofighter ein, um aus der Luft nach dem vermissten Jungen zu suchen.dpa

„Die Hoffnung stirbt zuletzt und die Hoffnung geben wir niemals auf“, sagt der Weilburger Bürgermeister Johannes Hanisch am Dienstag, dem achten Tag der Suche. Vom Balkon des Rathauses aus beobachtet er gerade einen Eurofighter, der seine Runden über der Stadt zieht. Die Polizei hatte die Luftwaffe der Bundeswehr um Unterstützung gebeten. Von dem Aufklärungsflugzeug erhofft sie sich hochauflösende Luftaufnahmen der weiteren Umgebung.

Nach wie vor erlebe er eine „große Welle der Unterstützung“, sagt Hanisch. Menschen aus der ganzen Bundesrepublik kämen, um zu helfen. „Sie halten die Augen und Ohren offen, laufen an der Lahn entlang und durch die Wälder.“ Als Pawlos verschwunden sei, seien Bürger noch bis in die Nacht mit Taschenlampen unterwegs gewesen. Als Dienstherr der städtischen Feuerwehr ist der Bürgermeister eng in die Abläufe eingebunden. Beinahe täglich informiert er zusammen mit der Polizei auf Instagram über die aktuellen Geschehnisse.

Innerhalb von einer Stunde und 15 Minuten habe die großangelegte Suchaktion begonnen. „Hier ist nach kurzer Zeit das Menschenmögliche getan worden.“ Hohe Waldanteile, Felsvorsprünge und die Bebauung der Stadt machten das Suchgebiet komplex, sagt Hanisch. Auch private Gärten seien zum Teil mehrfach durchsucht worden. „Es war wirklich intensiv und zum jetzigen Stand leider ohne Ergebnis“, sagt er. Die Zeit, die seit dem letzten konkreten Hinweis vergangen sei, bereite ihm Sorge.

Pawlos’ Familie werde durch die Polizei eng betreut, sagt Hanisch. Aufgrund seiner autistischen Veranlagung habe man schnell den Kontakt zu Familie und Schule gesucht, um die Suche auf seine Bedürfnisse anzupassen. Pawlos sei als quirliger Junge geschildert worden, der viel laufe und in der Schule des Öfteren aufgesprungen sei. Die Luftballons waren nicht das einzige Mittel, um den Jungen aus einem möglichen Versteck zu locken. Zusätzlich wurde eine Sprachbotschaft der Mutter über die Lautsprecher eines Polizeifahrzeugs abgespielt. Von seiner Lehrerin habe man von seiner Affinität zu Zahlen, Buchstaben und Musik erfahren, sagt Hanisch. Deshalb sei auch eine englische Version des ABC-Lieds gespielt worden, das Pawlos gerne höre.

„Die Suche geht definitiv weiter“, äußert ein Sprecher der Polizei. Beamte seien weiterhin in zweistelliger Zahl im Einsatz. Seit Montag schaltet die Polizei darüber hinaus bundesweit mehr als 13.000 digitale Informationstafeln im öffentlichen Raum. Die bundesweite Fahndung bedeute allerdings nicht, dass der Junge außerhalb von Weilburg vermutet werde. „Wir haben keine Anhaltspunkte, wo Pawlos sein könnte“, sagt der Sprecher. „Aber wir wollen nichts ausschließen.“

In der ersten Woche nach dem Verschwinden des Jungen sei eine niedrige dreistellige Zahl an Anrufen über das Hinweistelefon eingegangen. Beispielsweise von Weilburgern, die auf abgelegene Orte aufmerksam gemacht hätten, an denen sich der Junge aufhalten könnte. Die Aufnahmen des Eurofighters würden derzeit ausgewertet. „Wir ermitteln in alle Richtungen“, sagt ein Polizeisprecher. Hinweise auf ein Verbrechen seht die Polizei nicht.

Back to top button