Reisen

Land der Gegensätze am Ende der Welt | ABC-Z

Leise summt der Motor des Einbaums durch die Weiten des Dschungels des Canaima-Nationalparks im Süden Venezuelas. Aus den Baumkronen dringen tropische Vogelgesänge hinunter bis zur spiegelglatten Wasseroberfläche des Rio Carrao. Einzelne Wasserspritzer links und rechts des Bootes funkeln verheißungsvoll im rosa-lila Sonnenaufgang. Die Tafelberge am Rande des Flusses – sogenannte Tepui –, weisen den Weg zum größten Wasserfall der Welt: dem Salto Ángel.

Was sich hier wie der Beginn eines Märchens liest, ist in Venezuela Wirklichkeit. Denn kaum ein Land glänzt mit einer größeren geografischen Vielfalt: Endlose Traumstrände, dichter Urwald, dramatische Bergketten – es gibt nichts, was es in Venezuela nicht gibt. Die neueste Geschichte des Landes hingegen klingt bei weitem nicht so märchenhaft. Aufgrund des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und politischer Repressionen sind seit 2015 bislang knapp acht Millio­nen Menschen aus Venezuela geflohen – eine der größten Fluchtbewegungen weltweit. Das autoritäre Regime, die Hyperinflation und gravierende Versorgungsengpässe sind nur einige der Gründe für die massiven Flüchtlingsströme. Der ehemalige Präsident Hugo Chávez führte ein autoritäres System mit einem starken Staat und Ölabhängigkeit ein, das zunehmend wirtschaftlich instabil wurde. Unter seinem Nachfolger Nicolás Maduro verschärfte sich die Wirtschaftskrise; Korruption und politische Unterdrückung sind an der Tagesordnung. Lange Zeit konnten Venezolaner keine Reisepässe wegen angeblicher Papierknappheit beantragen, was die legale Ausreise zunehmend erschwerte. Viele Flüchtlinge leben deshalb ohne venezolanischen Pass im Ausland. Heutzutage kostet allein der Termin für die Beantragung eines neuen Reisepasses 250 US-Dollar – für viele Venezolaner unbezahlbar.

Fünf Stunden dauert die Fahrt von Canaima-Dorf bis zum höchsten Wasserfall der Erde. Anders als der Name Salto Ángel vielleicht vermuten lässt, hat das Naturwunder nichts mit Engeln zu tun. Es ist nach dem amerikanischen Buschpiloten Jimmie Angel benannt, der hier 1933 mit seinem Flugzeug abstürzte und so die Wasserfälle entdeckte. Man sollte Wasser mögen, denn die Fahrt ist kein gemütliches Dahinschippern. Die erfahrenen Kanuten navigieren die motorisierten Einbäume geschickt durch die vielen kleinen Stromschnellen. Häufig muss man das Boot verlassen und ein Stück über Land zurücklegen, da das Wasser an einigen Stellen zu seicht ist.

Hinter einer scharfen Kurve taucht er dann plötzlich auf: der Salto Ángel. Majestätisch stürzen die Wassermassen in einem langen Strahl den gigantischen Felsen hinunter und verlieren sich in einem Nebel aus Wasserspritzern. Am Ufer angelangt, trennt einen nur noch ein etwa einstündiger Fußmarsch durch den Dschungel vom Salto Ángel. Die feuchte Tropenluft legt sich wie ein dünner Film auf die Haut und in der Ferne hört man bereits die tosenden Wassermassen mit einer Fallhöhe von stolzen 807 Metern. Und dann ist es soweit: Im kühlen Wasserbassin zu Füßen des höchsten Wasserfalls der Welt kann man sich von den Strapazen der langen Reise erholen.

In Caracas, der Hauptstadt des Landes, geht es währenddessen trubeliger zu. Hochhäuser türmen sich zwischen Grünanlagen im Schatten des Ávila-Massivs. Dazwischen befinden sich zahlreiche Geschäfte mit kitschiger Weihnachtsdeko – denn Weihnachten wird in Venezuela schon ab dem Spätsommer zelebriert. Gelbbrust-Aras, sogenannte „Guacamayos“, segeln auf der Suche nach einem Snack von Balkon zu Balkon. Eine Seilbahn führt hinauf in den Ávila-Nationalpark und von oben kann man sowohl die lebendige Hauptstadt als auch das Meer mit seinen Traumstränden bewundern.

Das fortwährende Hupen der Autos bildet einen Kon­trast zur Stille und Abgeschiedenheit Canaimas. In kilometerlangen Schlangen reihen sich hunderte Autos am Straßenrand in der Hoffnung auf günstiges Benzin. Sie stehen oft schon fünf Tage vorher an und es gibt sogar eine Online-Lotterie, bei der man einen vorderen Platz in der Schlange gewinnen kann. Caracas zählt jedoch nicht wegen des Straßenverkehrs zu den gefährlichsten Städten der Welt. Die venezolanische Hauptstadt verzeichnet eine der höchsten Mordraten weltweit und viele Venezolaner verstecken aus Angst vor der massiven Straßenkriminalität ihre Wertsachen in den Schuhen. Das historische Zentrum mit seinen Kolonialbauten wird von Wänden mit politischen Graffitis durchzogen, allen voran die Augen von Ex-Präsident Chávez, die als Graffiti auf diversen Fassaden und sogar Treppen zu finden sind. Hier steht man sinnbildlich unter ständiger Beobachtung.

Im Nationalpark Canaima fernab der lauten Straßen der Hauptstadt hingegen scheint man von alldem nicht viel mitzubekommen. Lange Zeit war die Region von der Außenwelt abgeschottet und nur dem indigenen Stamm der Pemón bekannt. Auch heutzutage erreicht man die Gegend nur mit dem Flugzeug und die Wasserfälle mit einer zusätzlichen mehrstündigen Bootsfahrt. Kein Wunder also, dass diese Region als die „Lost World“ – die verlorene Welt – bezeichnet wird. Schließlich inspirierte sie mit ihrer Unberührtheit Schriftsteller und Filmschaffende zu Abenteuergeschichten über eine mystische, verlorene Welt. So waren die wilden Landschaften rund um die Gran Sabana Vorlage für Arthur Conan Doyles Roman „The Lost World“ und die bizarren Tafelberge dienten als Inspiration für den Pixar-Film „Oben“.

Etwas verloren mag man sich auch auf Isla Margerita fühlen, denn der Verfall des krisengeplagten Landes wird hier deutlich. Auf der einstigen Touristeninsel stehen mittlerweile die meisten Läden leer, und die alten Partymeilen wirken verschlafen. Die Hyperinflation macht selbst die einfachsten Dinge des Lebens unbezahlbar; die venezolanische Währung Bolivar hat keinen Wert mehr, bezahlt wird in US-Dollar. Überall im Land fehlen Lehrer – kein Wunder, bei einem Gehalt von gerade einmal drei Dollar pro Monat. Viele Schulen sind daher nur ein- bis zweimal die Woche geöffnet. Die Strände der Insel jedoch sind nach wie vor wie einer Postkarte entsprungen. Weißer, feiner Sand und große Palmen, die sich genügsam im Wind wiegen, klares warmes Wasser und Straßenverkäufer, die „Cocadas“ – frische Kokosnuss-Smoothies – anbieten. Man hat das Paradies quasi für sich alleine, mit Ausnahme von ein paar Russen – denn Venezuela bietet neben Flügen nach Damaskus auch direkte Flugverbindungen zwischen Moskau und Isla Margarita an.

Nach einer Übernachtung am Fuß des Salto Ángel und einem letzten Blick auf die herabstürzenden Wassermassen heißt es Abschied nehmen von diesem magischen Ort. Die Rückkehr vom tropischen Regenwald Canaimas in die harte Realität des venezolanischen Großstadtdschungels gleicht einem Kulturschock – und das, obwohl man sich noch immer auf dem gleichen Fleckchen Erde befindet. Denn das Land mit den meisten Miss-Universe-Titeln Südamerikas und den größten Erdölreserven weltweit ist ein Ort der Kontraste. Wer hierher kommt, reist bis an den Rand der Welt und entdeckt ein Paradies, das unter der Oberfläche zu verzagen droht. Und dennoch – zwischen Naturwundern und politischen Wirbelstürmen scheint Venezuela eine verlorene Welt, die nicht vergessen werden will.

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