Politik

Lage in der Ukraine: Das nächste Ziel ist der “Festungsgürtel” | ABC-Z

Russische Soldaten in Pokrowsk. Die einst von 60.000 Menschen bewohnte Stadt im Westen der Region Donezk gehörte zu den wichtigsten Zwischenzielen der russischen Offensive im Osten der Ukraine, die nun seit fast zwei Jahren anhält. Schon im vergangenen Spätherbst näherten sich russische Truppen der Stadt aus südlicher Richtung, konnten aber in den Folgemonaten dort gestoppt und teilweise sogar zurückgedrängt werden. 

Auch jetzt verläuft die Frontlinie noch nicht durch Pokrowsk. Doch einzelne russische Trupps sind schon dort. Am 21. Juli berichtete das im ukrainischen Militär gut vernetzte Analystenteam DeepState, russische Aufklärungstrupps seien über die südwestlich gelegene Siedlung Swirowe nach Pokrowsk eingedrungen. Und in den vergangenen Tagen zeigten Videos Angriffe ukrainischer Truppen auf russische Einheiten im Stadtgebiet.

Russische Befestigungsanlagen
Russische Kontrolle
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Zusätzl. erobert
Quelle: Institute for the Study of War, AEI Critical Threats Project

Die Lage ist unübersichtlich – was die Verteidigung der Stadt erschwert: Laut DeepState sorgte das Eindringen der Aufklärungstrupps für Verwirrung unter ukrainischen Soldaten, kurzzeitig sollen sie sich sogar gegenseitig beschossen haben. Ukrainische Soldaten, die vom britischen Sender BBC befragt wurden, bestätigten, was zuvor DeepState berichtet hatte: dass ihre Einheiten in Pokrowsk so ausgedünnt seien, dass Russland immer häufiger Lücken in der Verteidigung finde. 

Entscheidend für die Zuspitzung in Pokrowsk ist der Vormarsch der russischen Truppen östlich der Stadt, der sich in den vergangenen zwei Monaten ereignet hatte. Anders als im Herbst und Winter, als Pokrowsk nur vom Süden aus attackiert wurde, droht ihr nun die Einkreisung. Ähnlich wie im Februar 2024 Awdijiwka – die erste Frontstadt, die Russland bei seiner Offensive erobert hatte –, zieht sich nun eine Schlinge um Pokrowsk. Dabei kommen die russischen Truppen der Hauptversorgungsstraße für die ukrainischen Soldaten in der Stadt immer näher. Das macht es für die Ukrainer wiederum immer gefährlicher, Nachschub in die Stadt zu bringen. 

An der Entfernung zwischen der Straße und den russisch kontrollierten Territorien südlich und nordöstlich von ihr lässt sich ungefähr ablesen, wie viel Zeit für die Verteidigung der Stadt noch bleibt: In Awdijiwka hatten die ukrainischen Soldaten ihre Stellungen verlassen und sich aus der Stadt zurückgezogen, als der Rückzugskorridor kaum mehr breiter war als zwei Kilometer. Das war zu spät, einigen Soldaten gelang die Flucht nicht mehr. Ein ähnliches Szenario befürchten die Truppen in Pokrowsk, wie anonyme Militärs dem US-Sender CNN sagten. Auch hier erwarten sie, dass der Rückzugbefehl erst kommt, wenn Russland bereits Fakten geschaffen hat.

Fakten will Russland auch schon an einem anderen Frontabschnitt geschaffen haben: in Tschassiw Jar, 60 Kilometer östlich von Pokrowsk. Nach der langen Schlacht um Bachmut hatte Russland sich ab Frühjahr 2024 auf Tschassiw Jar konzentriert und in den Folgemonaten große Teile der Stadt besetzt. Am Donnerstagmorgen meldete das Verteidigungsministerium in Moskau, Tschassiw Jar vollständig erobert zu haben. Das ukrainische Militär widersprach: Es handle sich um eine Lüge. Auch das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) sieht die Stadt zu etwa 80 Prozent von Russland besetzt, nicht vollständig erobert, schreibt aber auch in seinem jüngsten Lagebericht: “Russland wird die Eroberung von Tschassiw Jar mutmaßlich in den kommenden Tagen abschließen.”

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Wie Prokowsk ist auch Tschassiw Jar im Wesentlichen ein Zwischenziel. Etwa acht Kilometer westlich liegt Kostjantyniwka. Bereits bei der Schlacht um Bachmut im Winter 2022/23 entwickelte sich der Ort zu einem wichtigen Stützpunkt der ukrainischen Truppen im nordöstlichen Donezk – wie es im Westen des Gebiets Pokrowsk gewesen ist. Eine Autobahn zwischen den beiden Städten hatten die Angreifer bereits im Frühjahr durchkreuzt. Doch seitdem haben sie zusätzlich einen Keil zwischen sie getrieben: Einen Frontvorsprung von je etwa 20 Kilometern Breite und Tiefe, der nun zwischen den Städten liegt. Und dazu führt, dass Kostjantyniwka, abermals ähnlich wie Pokrowsk, langfristig eine Attacke aus mehreren Richtungen droht. 

Die Erfahrung von monatelangen und verlustreichen Kämpfen um größere Städte wie Mariupol, Lyssytschansk und Sjewjerodonezk bewegt das russische Kommando dazu, die Städte lieber einzukreisen, als sie frontal zu attackieren. Russland nutzt dabei zwei Schwachstellen der ukrainischen Verteidiger aus. Die erste ist die angespannte Personalsituation im ukrainischen Militär: Allein bei Pokrowsk hat die Eroberung des Frontvorsprungs östlich der Stadt die Länge der Frontlinie in der Region nahezu verdoppelt – doppelt so viel Gebiet also, das von der gleichen Anzahl an Soldaten gesichert werden muss. 

Die zweite Schwachstelle ist eine, die eigentlich längst hätte beseitigt werden sollen. “Ukrainische Kommandeure werden gezwungen, eher unhaltbare Stellungen zu verteidigen, als Raum (…) aufzugeben”, kritisierte etwa der Militärexperte Michael Kofman nach einem Frontbesuch. Obwohl das Militärkommando schon vor mehr als einem Jahr öffentlich beschworen hat, früher als bisher Rückzugbefehle zu geben, habe sich dieses Vorgehen bislang nicht wirklich durchgesetzt. Es sei “bemerkenswert”, dass Pokrowsk und Tschassiw Jar so lange gehalten würden, schrieb Kofman. 

Hinzu komme, dass russische Drohneneinheiten inzwischen deutlich besser organisiert und ausgerüstet seien als vor wenigen Monaten. Standard sei inzwischen ihre Ausrüstung mit Glasfaserdrohnen, die nicht mit Störsignalen bekämpft werden können und bis zu 25 Kilometer tief in ukrainisch kontrolliertem Gebiet ukrainische Stellungen attackierten. Die Ukraine habe ihren qualitativen Vorsprung auf Russland bei der Drohnentechnologie zwar nicht eingebüßt, schrieb Kofman, “doch der Abstand hat sich verkürzt”. 

Glasfaserkabel von russischen Drohnen in der Nähe von Kostjantyniwka im Mai 2025 © Iryna Rybakova/​Ukrainisches Militär/​Reuters

Die russischen Erfolge bei Pokrowsk und Tschassiw Jar werden erst dann wirklich komplett sein, wenn beide Städte tatsächlich erobert sind. Im Fall von Pokrowsk könnte es sich noch um Wochen handeln, bis sich die letzten Soldaten zurückziehen. Doch Grund für die weitere Verteidigung der Stadt dürfte nicht nur die von Kofman und weiteren Beobachtern als stur kritisierte Weigerung des ukrainischen Militärkommandos sein, verlorene Posten aufzugeben. Sondern auch ein Wettlauf mit der Zeit mit Blick auf das nächste Ziel der Angreifer: die Eroberung der gesamten Region Donezk.

Und dafür scheint weder Pokrowsk noch Tschassiw Jar der Schlüssel zu sein – sondern Kostjantyniwka. Sie ist die südlichste von mehreren Städten im Norden der Region, die unter Beobachtern des Krieges als “Festungsgürtel” bezeichnet wird. Gemeint ist eine “Reihe von Städten, die das Rückgrat der ukrainischen Verteidigungspositionen in der Region Donezk bildet”, formuliert das ISW. Nördlich von Kostjantyniwka gehört auch Druschkiwka dazu. Und unmittelbar nördlich dieses Orts fängt die Agglomeration Kramatorsk-Slowjansk an. Es sind die letzten ukrainischen Großstädte in Donezk, die Wladimir Putin unbedingt erobern muss, wenn er den Krieg mit einem russischen Sieg beenden will. Nach Luhansk wäre mit Donezk die zweite der vier 2022 annektierten Regionen vollständig russisch erobert.

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Quelle: Institute for the Study of War, AEI Critical Threats Project

Für den Angriff auf den “Festungsgürtel” stünden nach der Eroberung von Pokrowsk und Tschassiw Jar größere Truppenverbände frei, die derzeit noch in diesen beiden Städten gebunden sind. Doch einfach wird die Aufgabe für sie trotzdem nicht, zumal sich im Herbst die Wetterbedingungen für die Angreifer verschlechtern. Von Witterungsverhältnissen sind sie abhängiger geworden, seit Russland den Mangel an Panzerfahrzeugen – zu hoch waren die Verluste an Panzern und Transportern in den vergangenen Jahren – durch Angriffe auf leichter Technik und Motorradeinheiten ausgleicht. Für die Ukraine dürfte es daher ein wichtiges Ziel sein, den Angriff auf den “Festungsgürtel” möglichst in den Spätherbst hinauszuzögern. 

Das ISW geht davon aus, dass das den Verteidigern gelingen könnte. Ob die US-Experten damit recht haben, ist eine Frage, von deren Antwort sehr viel abhängt. Denn in den kommenden Monaten wird nicht nur gekämpft, sondern auch, wie seit der Wiederaufnahme direkter Gespräche zwischen Russland und der Ukraine im Mai, verhandelt. An diesem Freitag beteuerte Putin erneut, auf Erfolge bei den Verhandlungen zu hoffen. Er verwies dabei darauf, dass sich die russischen Forderungen nicht verändert hätten – und vor allem darauf, dass seine Armee “an jedem Frontabschnitt” auf dem Vormarsch sei. Die Formulierung mag übertrieben sein, doch mit Blick auf jene Abschnitte, auf die es ankommt, ist sie wahr.

Das Ergebnis der kommenden Gespräche zwischen der Ukraine und Russland wird nicht nur davon abhängen, was die Kriegsparteien bis dahin auf dem Schlachtfeld sehen, sondern auch davon, was sie von einer Fortführung der Kämpfe erwarten. Fällt ein russischer Durchbruch, der Slowjansk und Kramatorsk gefährdet, aus, schreibt das Analyseportal Re:Russia, käme das einer Stärkung der ukrainischen Verhandlungsposition gleich. Und wenn er gelingt? “Wenn Zeichen eines Zusammenbruchs der Frontlinie (…) offensichtlich werden”, heißt es in einer Analyse von Re:Russia, “dann wird die Wahrscheinlichkeit von Beschränkungen der ukrainischen Souveränität in der künftigen Vereinbarung über ein Ende des Krieges maximal.” Für die ukrainischen Soldaten in Tschassiw Jar und Pokrowsk bedeutet das, dass sie mutmaßlich eher zu spät als zu früh abgezogen werden.



© Valentyn Ogirenko/​Reuters


1255 Tage


seit Beginn der russischen Invasion


Das Zitat: 50 Tage, 10 Tage, 3 Tage, 9 Tage

50 Tage hatte Donald Trump Mitte Juli dem russischen Präsidenten gegeben, um seine Verhandlungsposition zu überdenken und ein “Ergebnis” für ein Kriegsende zu präsentieren. Dann würden die USA Zölle von 100 Prozent auf Waren aus Ländern erheben, die russische Energieträger importieren, ließ der US-Präsident wissen. 

Schon mehrmals hatte Trump seit Beginn seiner zweiten Amtszeit von wenigen Wochen gesprochen, die er noch brauche, um eine Entscheidung über höheren Druck auf Russland zu treffen. Doch zwei Wochen nach dieser Ankündigung hat der US-Präsident die selbst gesetzte Frist nicht, wie bisher, verlängert – sondern verkürzt. So sagte er am Dienstag über den neuen Stichtag:

Zehn Tage ab heute.

Donald Trump

Die Deadline würde bedeuten, dass die angedrohten Zölle am 8. August in Kraft treten. Doch schon einen Tag nach der Ankündigung, am Mittwoch, schien Trump seinen Plan noch weiter zu beschleunigen: Auf seiner Plattform Truth Social kündigte er einen Sonderzoll von 25 Prozent auf Waren aus Indien an, unter anderem, weil das Land Waffen und Öl aus Russland importiere, “während jeder will, dass Russland das Töten in der Ukraine beendet”.

Indiens Regierungschef Narendra Modi mit Wladimir Putin im Juli 2024 in Moskau © Evgeniya Novozhenina/​Reuters

Der Zollsatz ist zwar viel niedriger als zuvor angedroht, doch handelte es sich dennoch um die erste konkrete Ankündigung solcher Maßnahmen im Kontext der Drohungen Trumps gegen Russland. Zumal der Zoll gegen Indien bereits ab dem 1. August fällig sein sollte, wie der US-Präsident ankündigte. 

Doch dabei blieb es nicht lang: Am späten Donnerstagabend unterzeichnete Trump ein Dekret, das neue Zollsätze für rund 70 Länder festlegt – darunter Indien mit den zuvor angedrohten 25 Prozent, gültig ab dem 7. August. Noch davor, kündigte Trump an, werde sein Sondergesandter Steve Witkoff erneut für Gespräche nach Russland reisen.


Die wichtigsten Meldungen: Antikorruptionsgesetz, Luftangriff, Flugausfälle

Korruptionsgesetz: Das ukrainische Parlament hat ein Gesetz gebilligt, mit dem die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden des Landes wiederhergestellt werden soll. Der Schritt ist eine Reaktion auf Proteste in der Ukraine und von ausländischen Unterstützerländern gegen ein erst zwei Wochen zuvor verabschiedetes Gesetz, das die Behörden dem von Präsident Wolodymyr Selenskyj ernannten Generalstaatsanwalt unterstellte. Das nun wieder wirkungslose Gesetz war von Kritikern als Versuch Selenskyjs aufgefasst worden, Ermittlungen der Korruptionswächter gegen Vertraute zu behindern.

Jubel unter Demonstrantinnen und Demonstranten, nachdem das Parlament für das korrigierte Antikorruptionsgesetz gestimmt hat. © Viacheslav Ratynskyi/​Reuters

Angriff auf Kyjiw: Die ukrainische Hauptstadt hat in der Nacht zum Donnerstag einen der tödlichsten Luftangriffe seit Kriegsbeginn erlebt. Bei einer Attacke mit mehr als 300 Drohnen und acht Raketen sind in Kyjiw 31 Menschen getötet worden, darunter fünf Kinder. Weitere 159 Menschen wurden verletzt. Mehr Menschen waren in Kyjiw seit Kriegsbeginn bisher nur bei einem Luftangriff im Dezember 2023 getötet worden, als 33 Menschen starben.

Cyberattacke: Infolge eines Cyberangriffs auf die russische Fluggesellschaft Aeroflot sind in Russland am Montag zahlreiche Flüge ausgefallen. 108 Flüge musste Aeroflot am Montag absagen, weitere 53 am Dienstag. Zur Cyberattacke bekannten sich die proukrainische Hackergruppe Silent Crow sowie ein Hackerkollektiv aus Belarus, das sich während der Proteste gegen das dortige Regime im Jahr 2020 gebildet hatte und bereits mehrere Cyberangriffe gegen belarussische und russische Behörden ausgeführt hat. Die Hacker wollen 7.000 Server zerstört und 20 Terabyte an Daten erbeutet haben. Von russischen Medien befragte Experten gehen von einem Schaden von bis zu 50 Millionen US-Dollar aus.


Waffen und Militärhilfen: Drohnen und Raketenabwehr

  • Die Niederlande haben der Ukraine nach Angaben aus Kyjiw weitere 400 Millionen Euro für die Finanzierung ukrainischer Drohnenhersteller zugesagt.
  • Deutschland liefert dem Verteidigungsministerium in Berlin zufolge bereits in den kommenden Tagen zwei Startgeräte eines Patriot-Luftverteidigungssystems an die Ukraine. Ein vollständiges System enthält bis zu acht Startgeräte, die jeweils vier Flugabwehrraketen abfeuern können. In den kommenden Monaten soll die Ukraine aus Deutschland und Norwegenmindestens drei vollständige Systeme erhalten. Momentan stehen dem Land sieben solcher Systeme zur Verfügung. Sie werden hauptsächlich zum Abschuss ballistischer Raketen eingesetzt, die mit anderen Systemen kaum abgewehrt werden können.
  • Ein lettisches Unternehmen hat sich nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Riga bei einer internationalen Ausschreibung der sogenannten Drohnenkoalition durchgesetzt und wird für die Ukraine Drohnen im Wert von 24 Millionen Euro herstellen.

Die vergangene Folge des Wochenrückblicks finden Sie hier.

Verfolgen Sie alle aktuellen Entwicklungen im russischen Krieg gegen die Ukraine in unserem Liveblog.

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