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Lage im Gazastreifen: Was plant Netanjahu, was will Trump? | ABC-Z

Hungernde Menschen in Gaza, schockierende Geiselvideos: Eine Waffenruhe in Nahost ist in weite Ferne gerückt. Will Premier Netanjahu jetzt den gesamten Gazastreifen einnehmen? Welche Politik verfolgt US-Präsident Trump? Ein Überblick.

Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist nach wie vor katastrophal. Schätzungen zufolge sind etwa zwei Millionen Menschen seit Beginn des Kriegs im Herbst 2023 innerhalb des Gebiets auf der Flucht. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind viele Menschen von Unterernährung bedroht. Im Juli gab es den Angaben zufolge einen signifikanten Anstieg der Todesfälle im Zusammenhang mit Unterernährung. In Gaza-Stadt ist jedes fünfte Kind unter fünf Jahren akut unterernährt.

Aufgrund des internationalen Drucks lässt Israel seit Ende Juli auch wieder Lkw mit Hilfsgütern in den Gazastreifen. Innerhalb einer Woche erreichten die Menschen laut israelischer Militärbehörde COGAT 23.000 Tonnen Hilfsgüter, transportiert auf 1.200 Lastwagen.

Augenzeugen berichten aber, dass die meisten Lkw im Inneren des Gazastreifens von Bewohnern geplündert würden – so dass sie Lager und Verteilzentren nicht erreichen. Dabei gibt es immer wieder Tote und Verletzte. Seit Ende Mai wurden nach Angaben der Vereinten Nationen etwa 1.400 Menschen bei dem Versuch getötet, an Lebensmittel zu gelangen – verantwortlich dafür sei das israelische Militär. Israel weist die Vorwürfe zurück.

Um die Situation zu verbessern und die drohende Hungersnot abzuwenden, müssten nach Angaben von Hilfsorganisationen weit mehr Lebensmittel und Medikamente in die Region gebracht werden. Vor der Blockade hatten die UN und andere Organisationen 500 bis 600 Lastwagen pro Tag in den Gazastreifen geliefert.

Seit etwa einer Woche gibt es auch wieder Abwürfe von Hilfsgütern aus der Luft, auch die Bundeswehr beteiligt sich daran. Allerdings steht die Aktion in der Kritik, weil nur vergleichsweise geringe Mengen abgeworfen werden. Zudem ist das Risiko hoch, dass sich die Menschen verletzen, wenn sie an die abgeworfenen Güter gelangen wollen.

Israelische Behörden gehen davon aus, dass sich noch 50 Geiseln im Gazastreifen befinden, von denen nur noch 20 am Leben sein sollen. In den vergangenen Tagen veröffentlichte die militant-islamistische Terrorgruppe Hamas Videos, in denen zwei dieser Geiseln, zwei junge Männer, im Zustand akuter Unterernährung, schwindender körperlicher Kraft und emotionaler Gebrochenheit gezeigt wurden.

Eines der Videos zeigt den abgemagerten Evyatar David, wie er sich in einem engen Tunnel sein eigenes Grab zu schaufeln scheint. Ein anderes Video zeigt, wie der Deutsch-Israeli Rom Braslavski sich Nachrichtenvideos über die Hungersnot der Palästinenser im Gazastreifen anschauen muss. Die Videos sorgten in Israel und international für großes Entsetzen.

Das Forum der Angehörigen der Geiseln forderte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vehement auf, mit der Hamas eine Einigung über die Freilassung der Angehörigen zu erzielen. Zugleich kritisierten sie dessen angebliche Pläne, angesichts der von der Hamas veröffentlichten Videos die Kämpfe im Gazastreifen ausweiten zu wollen.

“Seit 22 Monaten wird der Öffentlichkeit die Illusion verkauft, dass militärischer Druck und intensive Kämpfe die Geiseln zurückbringen werden”, zitierte die Times of Israel eine Erklärung der Gruppe.

Israelische Medien berichten, Regierungschef Netanjahu habe sich entschieden, den Gazastreifen vollständig einzunehmen – trotz Bedenken der Militärführung. Das Nachrichtenportal ynetnews.com zitierte einen Offiziellen, der Netanjahu nahe steht, mit den Worten: “Die Würfel sind gefallen – wir beabsichtigen, den Gazastreifen vollständig zu besetzen.”

Auch der TV-Sender Kanal 12 und die Zeitung Jerusalem Post berichteten unter Berufung auf Regierungsvertreter, das Kabinett wolle noch am Dienstag eine entsprechende “aktualisierte Strategie” für die Streitkräfte beschließen. Demnach sind auch Militäreinsätze in Gebieten geplant, in denen israelische Geiseln vermutet werden.

Israels Militär kontrolliert derzeit rund 75 Prozent der Fläche des Gazastreifens. Die Beseitigung aller Hamas-Tunnel und -Bunker könne Jahre dauern, beschrieb die Times of Israel Bedenken der Armeeführung gegen eine volle Einnahme. Auch könnten die Geiseln in Gefahr geraten und von ihren Entführern getötet werden, sollten sich Israels Truppen den Orten nähern, wo sie festgehalten werden.

Trotz der Bedenken des Militärs habe Netanjahu Ministern mitgeteilt, dass er sich um die Unterstützung des Kabinetts für einen Plan zur vollständigen Besetzung Gazas bemühen werde, berichtete die Times of Israel.

Die Nachrichtenseite ynet zitierte einen Beamten mit den Worten: “Wenn der Generalstabschef (Ejal Zamir) damit nicht einverstanden ist, dann soll er zurücktreten.”

Berichten zufolge soll sich Zamir bei vergangenen Sitzungen des Sicherheitskabinetts heftige Diskussionen mit ultrarechten Ministern geliefert haben, die die Einnahme des ganzen Gazastreifens, die Abschiebung der palästinensischen Bevölkerung in andere Länder und die Errichtung jüdischer Siedlungen fordern.

Unklar bleibt die Zukunft der im Gazastreifen lebenden Palästinenser, sollte Israel das Gebiet vollständig kontrollieren. Droht ihnen Vertreibung? Im Juli hatte Verteidigungsminister Israel Katz den Bau eines riesigen Lagers im Süden des Gazastreifens vorgeschlagen – aus Sicht vieler Palästinenser eine Vorstufe zur Vertreibung.

Bisher sind die arabischen Nachbarländer aber nicht bereit, Palästinenser in größerer Zahl aufzunehmen. Und die meisten Palästinenser wollen ihre Heimat ohnehin nicht verlassen. Hinzu kommt, dass die Umsiedlungspläne nach Ansicht von Experten gegen das Völkerrecht verstoßen.

Anders als seine rechtsextremen Koalitionspartner, die auf eine zwangsweise Umsiedelung setzen, hatte Netanjahu die Freiwilligkeit betont – etwa bei seinem Besuch bei US-Präsident Donald Trump in Washington Anfang Juli.

In der Vergangenheit galt stets die Regel, dass Israel nur auf einen internationalen Akteur schaut: die USA. Kein Land leistet mehr Militärhilfe für Israel als die USA – sie soll zwischen Oktober 2023, dem Beginn des Gazakrieges, und September 2024 mindestens 23 Milliarden US-Dollar betragen haben, wie aus einer Analyse der US-amerikanischen Brown Universität hervorgeht.

Unter Donald Trump sind die Regierungsbeziehungen wieder enger geworden, wenngleich die Interessen auch hier immer wieder deutlich auseinandergehen. So drängt Trump regelmäßig auf ein Kriegsende, während Netanjahu die Hamas vollständig besiegen will.

Andere Akteure wie etwa die EU und ihre Mitgliedstaaten, spielen hier eine deutlich schwächere Rolle. Das gilt auch für Deutschland.

Allerdings hat die Entscheidung Frankreichs und Kanadas, einen Staat Palästina anzuerkennen, gleichlautende Überlegungen der britischen Regierung sowie die Nahost-Konferenz bei den Vereinten Nationen den Druck auf Israel erhöht, zu einer politischen Lösung in der Palästinenserfrage zu kommen. Auch weil sich mit Saudi-Arabien eine Regionalmacht an die Seite Frankreichs gestellt hat.

Vor dem Gazakrieg sah es nach einer historischen Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien aus – davon ist wenig geblieben.

Doch internationalen Druck ist Israel seit Jahrzehnten gewohnt. Und durch die Umwälzungen im gesamten Nahen Osten ist seine militärische Position stark wie lange nicht mehr.

Trumps Gesandter für die großen Krisen dieser Welt – Nahost, Ukraine – ist dieser Tage wieder im Nahen Osten unterwegs und setzt jetzt offenbar nicht mehr auf gestaffelte Abkommen zwischen Israel und der Hamas mit Waffenruhen und schrittweisen Freilassungen von Geiseln.

Am Wochenende berichteten mehrere US-Medien übereinstimmend, dass Steve Witkoff bei einem Treffen mit Angehörigen der Hamas-Geiseln gesagt habe, Präsident Trump setze nicht darauf, den Krieg im Gazastreifen noch auszuweiten, sondern ihn zu beenden.

Statt wie bisher zunächst nur über eine Waffenruhe und die stufenweise Freilassung der Geiseln zu verhandeln, strebe Trump jetzt einen umfassenden Deal an, der den Krieg beende und alle verbleibenden Geiseln auf einmal zurückbringe.

Trump glaube, dass alle Geiseln “auf einmal nach Hause kommen sollten – keine stückweisen Abkommen. Das funktioniert nicht”, zitiert das US-Portal Axios aus dem Gespräch.

Damit verfolgt Trump eine andere Linie als Netanjahu, nicht zum ersten Mal in den vergangenen Monaten, obwohl die Nähe zwischen ihm und dem israelischen Ministerpräsidenten deutlich größer ist als zwischen Trumps Vorgänger Joe Biden und Netanjahu.

Wie er die Hamas dazu bewegen will, alle Geiseln freizulassen und wie beide Seiten davon überzeugt werden sollen, jetzt die Kampfhandlungen einzustellen, ist allerdings ebenso unklar wie die Frage, wie darüber hinaus die Zukunft des Gazastreifens gestaltet werden soll.

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