Läutet die Totenglocke für das transatlantische Liga? – Politik | ABC-Z

In den Augen vieler Europäerinnen und Europäer hat sich mit dem erneuten Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident das Verhältnis zwischen Europa und den USA deutlich abgekühlt: Das zeigt eine neue Erhebung der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR), für die insgesamt 18 507 Menschen aus elf EU-Ländern sowie Großbritannien, der Schweiz und der Ukraine befragt wurden. Demnach sehen die meisten Menschen die USA mehrheitlich nicht mehr als „Verbündeten, der unsere Interessen und Werte teilt“, sondern als „notwendigen Partner, mit dem wir strategisch zusammenarbeiten müssen“. Wie stark sich die Wahrnehmung binnen eineinhalb Jahren verschoben hat, zeigt das Beispiel des traditionell eher transatlantisch geprägten Dänemark: Dort bezeichneten im April 2023 noch 54 Prozent der Befragten die USA als „Verbündeten“, im November 2024 waren es nur noch 30 Prozent.
Arturo Varvelli, einer der drei Autoren der ECFR-Studie, hört aus den Umfragedaten bereits „die mögliche Totenglocke für das transatlantische Bündnis“ läuten. Die Tatsache, dass die Europäer heute mehrheitlich die Vereinigten Staaten nicht länger als Verbündeten sähen, zeuge von einem „Zusammenbruch des Vertrauens in die außenpolitische Agenda“ Washingtons. Seine Mitautorin Jana Puglierin sieht dafür handfeste Gründe: „Donald Trumps jüngste Aktionen gegenüber historischen US-Verbündeten zeigen, dass die atlantische Gemeinschaft nicht länger von gemeinsamen Werten gestützt ist.“
Zugleich zeigen die Ergebnisse der Studie, dass die Ansichten zu wesentlichen außenpolitischen Fragen innerhalb Europas stark auseinanderklaffen. Dadurch eröffneten sich, so die Autoren, möglicherweise „Spielräume für die neue Trump-Regierung, um die Europäer in Kernfragen gegeneinander auszuspielen“. Auf die Frage etwa, was Europa in Bezug auf den Ukraine-Krieg tun sollte, stimmten 53 Prozent der Befragten in Estland der Aussage zu: „Europa sollte die Ukraine im Kampf darum unterstützen, von Russland besetzte Gebiete zurückzugewinnen“. In Deutschland, wie auch im Schnitt aller elf EU-Länder, sahen dies 27 Prozent der Befragten so – in Italien dagegen nur 13, in Ungarn zwölf und in Bulgarien neun Prozent. In Ungarn stimmte eine Mehrheit von 52 Prozent der Aussage zu: „Europa sollte die Ukraine dazu drängen, ein Friedensabkommen mit Russland auszuhandeln, ohne vorheriges Angebot einer Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine“. In Bulgarien sahen dies 47 Prozent so, in Deutschland 32, in Dänemark dagegen nur zwölf Prozent der Befragten.
Russland als Gegner oder „notwendiger Partner“?
Auch im Blick auf Russland zeigen sich große Differenzen innerhalb Europas. 74 Prozent der befragten Dänen sehen in dem Land einen „Gegner, mit dem wir im Konflikt stehen“, in Italien teilen nur 26 Prozent der Befragten diese Position; dort nehmen 28 Prozent das Land als „notwendigen Partner“ wahr, „mit dem wir strategisch zusammenarbeiten müssen“. In Ungarn stimmten 37 Prozent dieser Aussage zu, in Bulgarien sogar 41 Prozent. In letzteren beiden südosteuropäischen Ländern ist jeweils auch eine Mehrheit der Befragten der Meinung, die Ukraine sei zumindest gleichermaßen für den Fortgang des Krieges verantwortlich wie Russland. Und auch der Blick auf die Personalie Trump unterscheidet sich hier von dem in anderen Teilen des Kontinents. Rund die Hälfte der Ungarn bewerten die Wiederwahl Trumps als „gute Sache“ für amerikanische Bürger, für ihr eigenes Land und für den Weltfrieden. In Dänemark dagegen halten dies mehr als die Hälfte der Befragten für eine „schlechte Sache“.
Auch in der Beurteilung der Rolle Chinas zeigen sich die Europäer uneins. Im Süden des Kontinents sehen viele Menschen in dem asiatischen Land einen „notwendigen Partner“: in Bulgarien 52 Prozent, in Spanien 47, in Italien 46 und in Italien immerhin 41 Prozent. Besonders kritisch äußern sich in dieser Frage die Deutschen: Hier sehen 38 Prozent der Befragten in China einen „Rivalen, mit dem wir konkurrieren müssen“, und 17 Prozent sogar einen „Gegner, mit dem wir im Konflikt stehen“. Auch in Dänemark, Frankreich und Polen äußerten sich viele Menschen chinakritisch. Aus den unterschiedlichen Haltungen gegenüber Peking könnten sich „Herausforderungen“ ergeben, warnen die Autoren der ECFR-Studie, falls Trump etwa versuchen könnte, „die Europäer dazu zu drängen, den Druck auf China zu steigern“.
Dass Trump in seiner zweiten Amtszeit in irgendeiner Weise Rücksicht auf die internen Befindlichkeiten Europas nehmen könnte, darüber sollte man sich keine Illusionen machen, warnen die Studienautoren. Bereits als er das erste Mal in Washington regierte, habe er die Europäische Union als „Feind“ bezeichnet und Brüssel als „Drecksloch“. Es gebe keinen Grund zu der Annahme, dass er seine Meinung seither grundsätzlich geändert habe. Die Trump-Regierung stehe erklärtermaßen gegen die europäische Politik des ökologischen Wandels, den vermeintlichen „Wokeismus“ der EU und ihre Politik der Regulierung dessen, was Trump unter „freier Rede“ versteht, etwa in sozialen Medien.
Wie stark ist Europa, wie zuverlässig kann es sich im globalen Ringen um Interessen behaupten? Wie eine andere ECFR-Studie kürzlich feststellte, sieht die Mehrheit der Befragten in Ländern wie Brasilien, Saudi-Arabien, China, Indien und auch den USA die Europäische Union auf Augenhöhe mit Weltmächten wie den USA und China. Demgegenüber stehen die Selbstzweifel der Europäer: Nur 43 Prozent der Befragten in den elf EU-Ländern sahen sich den Amerikanern und den Chinesen gewachsen – mit deutlichen Ausschlägen nach oben und unten: In Estland waren es 58 Prozent, in Frankreich dagegen nur 32 Prozent.
Längst habe die „Trumpisierung“ auch Europa erfasst, schreibt Pawel Zerka, einer der drei Studienautoren: Rechtsaußen-Parteien und -Positionen hätten auf dem Kontinent zuletzt einen großen Schub erfahren. Und die transatlantische Tradition sei einem deutlich nüchterneren Bild der europäisch-amerikanischen Beziehungen gewichen. Allem Pessimismus zum Trotz biete Trumps Rückkehr der EU die Chance, „Pragmatismus in ihrer Außenpolitik zu lernen“. Allerdings, so warnt das ECFR-Team einhellig, dürften die Europäer sich in dieser schwierigen Phase nicht spalten lassen: einzelne Staats- und Regierungschefs müssten „der Versuchung widerstehen, auf Kosten anderer europäischer Verbündeter privilegierte Beziehungen zu Trump aufzubauen“.