Lässt Merz eine Schuldenwette von 900 Milliarden Euro zu? | ABC-Z

Bloß nicht den Eindruck erwecken, die CDU gebe schon eine Woche nach der Wahl ihre Prinzipien auf: Parteichef Friedrich Merz bemühte sich am Montag sichtlich, die Debatte über zwei große neue Schuldentöpfe – einen für die Verteidigung und einen für die Infrastruktur – einzufangen. „Wir sprechen bis jetzt nicht über Zahlen“, sagte er. Seinen Sondierungspartnern von der SPD gab Merz zudem mit, dass ein „gemeinsames Verständnis über den enormen Konsolidierungsbedarf“ im Haushalt wichtig sei. Zugleich aber machte der CDU-Chef deutlich, dass er angesichts der Entwicklungen in den USA einen großen Zeitdruck sieht. „Wir sollten versuchen, das noch vor dem EU-Gipfel am Donnerstag zu vereinbaren.“
Mit diesem „das“ ist die Frage gemeint, wie Deutschland seine Verteidigungsausgaben deutlich erhöhen kann. Der CDU geht es vor allem um die Aufstockung des bisherigen Sondervermögens für die Bundeswehr oder die Schaffung eines neuen. Sowohl die SPD als auch die Grünen, mit denen die Union derzeit noch eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag hat, drängen aber auch auf höhere staatliche Ausgaben für die Infrastruktur. Laut der Nachrichtenagentur Reuters hat eine Gruppe von Ökonomen auf Initiative des saarländischen Finanzministers Jakob von Weizsäcker (SPD) vorgeschlagen, für die Bundeswehr ein Sondervermögen von 400 Milliarden Euro bereitzustellen, für die Infrastruktur eines mit 400 bis 500 Milliarden Euro. Die Chefin von Jakob von Weizsäcker, die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD), ist Teil des SPD-Sondierungsteams.
Die vier Urheber des Vorschlags, die Ökonomen Clemens Fuest (Ifo-Institut), Michael Hüther (IW Köln) Moritz Schularick (IfW) und Jens Südekum (Universität Düsseldorf), wollten sich auf Anfrage nicht zu Details äußern. Wie die 400 Milliarden Euro für die Verteidigung zustande kommen, lässt sich aber durch Überschlagsrechnungen herleiten. 2024 umfasste der Verteidigungsetat im Haushalt 52 Milliarden Euro. Zusammen mit den Ausgaben aus dem ersten, 2022 geschaffenen Sondervermögen meldete Deutschland Gesamtausgaben von rund 91 Milliarden Euro an die NATO und erfüllt so die Vorgabe, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in die Verteidigung zu investieren.
Inflation als sozialer Sprengstoff
Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ist jedoch 2027 aufgebraucht, und auf dem diesjährigen NATO-Gipfel könnte eine Zielvorgabe „nördlich von drei Prozent“ beschlossen werden, wie Generalsekretär Mark Rutte angekündigt hat. Die Vorsitzende des Sachverständigenrats, Monika Schnitzer, hat in einer Beispielrechnung mit einer Quote von drei Prozent den Finanzbedarf für ein neues Verteidigungssondervermögen für die Jahre 2025 bis 2029 daher auf rund 300 Milliarden Euro beziffert. Sollte die Zielvorgabe auf 3,5 Prozent steigen, würde dies für Deutschland grob überschlagen jährliche Verteidigungsausgaben von 150 Milliarden Euro bedeuten – rund 100 Milliarden Euro mehr als bislang.
Für das Sondervermögen für die Infrastruktur hat der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) im Juni 2024 die Blaupause erstellt. In einem Positionspapier bezifferte der Verband damals die nötigen Zusatzinvestitionen der öffentlichen Hand auf 400 Milliarden Euro innerhalb von zehn Jahren. Zur Finanzierung zeigte er sich auch für schuldenfinanzierte Sondervermögen offen, was SPD und Grüne im Wahlkampf gerne zitierten. Konkret hält der BDI 158 Milliarden Euro für die Verbesserung der Verkehrswege für nötig, insbesondere der Bahn. Für den Bildungsbereich setzt er 101 Milliarden Euro an, zur Förderung des Wohnungsbaus und der energetischen Sanierung 56 Milliarden Euro, für Klimaschutz in der Industrie und den Ausbau der Ladeinfrastruktur 41 Milliarden Euro. Weitere 20 bis 40 Milliarden Euro seien nötig, um die Abhängigkeit von bestimmten Importen zu verringern. Noch nicht berücksichtigt sind die Kosten für den Umbau des Stromnetzes, die bislang großteils die Stromkunden tragen, was Union und SPD aber ändern wollen. Dies könnte erklären, warum statt der 400 nun sogar über 500 Milliarden Euro gesprochen wird.
Welche erwünschten und unerwünschten Folgen hätten zwei derart dimensionierte Sondervermögen volkswirtschaftlich? Oliver Holtemöller, Konjunkturforscher am Institut für Wirtschaftsforschung in Halle, sieht vor allem eine Gefahr: Inflation. „Wenn wir die Staatsverschuldung in großem Umfang schnell erhöhen, gibt es das Problem realer Knappheiten.“ Gemeint ist damit, dass es gar nicht genügend Bauarbeiter, Rüstungsfabriken und Handwerker gibt, um einer Ausgabenflut Herr zu werden. Die Folge wären steigende Preise, weil der Staat bereit ist, viel Geld zu bezahlen. „Dass Inflation sozialer Sprengstoff ist, haben wir ja gerade erst erlebt“, warnt Holtemöller. Die EZB müsse dann die Zinsen erhöhen, was die Refinanzierung der Schulden für den Staat verteuere und vor allem außerhalb von Deutschland Probleme verursache.
Kreditkosten spielten kaum eine Rolle
Derzeit ist der Bund je nach Abgrenzung mit 1,7 Billionen Euro (Bundesfinanzministerium) oder 1,86 Billionen Euro (Bundesbank) verschuldet. Die von der Ökonomenrunde ins Spiel gebrachten Sonderkredite würden den Stand also um etwa die Hälfte erhöhen, wenn sie vollständig in Anspruch genommen werden. Die alte Bundesregierung hatte in ihrem Haushaltsentwurf 2025 einen durchschnittlichen Zinssatz von 2,53 Prozent unterstellt. Am Montag entsprach dies ziemlich genau dem Satz, der für zehnjährige Papiere des Bundes verlangt wurde. Freitagabend waren es knapp 2,4 Prozent gewesen.
Es ist nicht auszuschließen, dass der absehbar steigende Kreditbedarf sich schon bemerkbar macht. Bisher hat sich Deutschland wegen seiner hohen Bonität besonders günstig verschulden können. Frankreich und Italien sind höher verschuldet und müssen ihre Staatsanleihen mit höheren Zinscoupons als Deutschland ausstatten, um sie am Markt unterbringen zu können. Die Regierungen in Paris und Rom müssen derzeit mit rund 3,2 beziehungsweise 3,5 Prozent kalkulieren.
In Zeiten ohne Inflationsdruck und mit ultralockerer Geldpolitik spielten Kreditkosten kaum eine Rolle. Das hat sich schon spürbar geändert. Die Zinskosten für die Bundesschuld haben sich von ihrem Tiefstand 2021 mit rund vier Milliarden Euro binnen zwei Jahren fast verzehnfacht. 2023 waren es 37,7 Milliarden Euro. Dieses Jahr werden die Zinsausgaben des Bundes auf zwischen 33 und 34 Milliarden Euro geschätzt.
Jedes Zehntel mehr Zins wird schnell teuer
Nach der Statistik des Bundesfinanzministeriums sind mehr als eine Billion Euro der Schulden langfristig finanziert – mit Papieren, die erst nach zehn, 15 oder gar 30 Jahren fällig werden. Aber ein Teil davon ist regelmäßig zu refinanzieren. Seit 2020 hat der Bund brutto rund 400 Milliarden Euro im Jahr am Finanzmarkt aufnehmen müssen. Jedes Zehntel mehr Zins wird da schnell teuer. Die „übliche“ Kreditaufnahme im Rahmen der Schuldenbremse plus die diskutierten beiden Sondertöpfe könnten die Altlast des Bundes um etwa eine Billion Euro erhöhen. Für 2,7 Billionen Euro müsste der Bund beim aktuellen Finanzierungssatz knapp 68 Milliarden Euro Zinsen im Jahr bezahlen. Mit italienischen Kosten würde man sich der 100-Milliarden-Euro-Marke nähern.
Die EU-Budgetregeln sind für die Berliner Pläne wohl kein Hindernis. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat schon auf der Münchner Sicherheitskonferenz angekündigt, sie wolle die „nationale Ausweichklausel“ im EU-Stabilitätspakt ziehen, um Verteidigungsinvestitionen vom Pakt auszunehmen. Die Klausel erlaubt es einem Mitgliedstaat, von dem mit der Kommission vereinbarten Nettoausgabenpfad für die kommenden Jahre nach oben abzuweichen. Voraussetzung für die Anwendung der nationalen Ausweichklausel ist das Vorliegen „außergewöhnlicher Umstände“, die sich der Kontrolle des Mitgliedstaats entziehen und erhebliche Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen des Mitgliedstaats haben. Die Kommission interpretiert den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine generell und vor allem den absehbaren Wegfall der US-Sicherheitsgarantien als solche außergewöhnlichen Umstände.
Weil alle Verteidigungsinvestitionen ausgenommen werden sollen, ist aus der EU-Perspektive nicht entscheidend, ob sie über ein Sondervermögen oder eine Reform der Schuldenbremse finanziert werden. Ob die Kommission auch einen deutschen Infrastrukturfonds durchwinken würde, hinge von dessen Zweck ab. Von der Leyen hat in der Anwendung des Pakts „größtmögliche Flexibilität“ angekündigt. Dennoch müsste der Fonds im weiteren Sinne einen Bezug zu Verteidigungsinvestitionen haben. Möglich wären sicher Investitionen in Straßen, Eisenbahnlinien, Brücken oder Energieleitungen.
„Auch in Infrastruktur kann Geld versenkt werden“
Von der Leyen will ihre Pläne an diesem Donnerstag den EU-Staats- und -Regierungschefs auf deren Sondergipfel in Brüssel vorlegen. Nach Diplomatenangaben stehen die meisten Staaten dem Vorschlag aufgeschlossen gegenüber. Die notwendige qualifizierte Mehrheit werde auf jeden Fall erreicht, hieß es. Die Kommissionschefin will ferner über eine Umwidmung zusätzliche Mittel aus dem EU-Budget loseisen. Kandidaten dafür sind einerseits die EU-Struktur- und Kohäsionsfonds, andererseits nicht verausgabte Mittel aus dem EU-Wiederaufbaufonds. Beide Fonds sind zweckgebunden, sodass eine direkte Rüstungsfinanzierung nicht möglich ist. Die Kommission denkt aber an die Finanzierung von Infrastruktur, etwa Straßen, Bahngleise und Energieleitungen. Empfängerkandidaten wären vor allem die Anrainer Russlands und der Ukraine.
Im Gespräch ist ferner eine spezielle Fazilität zur Finanzierung von Verteidigungsausgaben. Diese könnte entweder aus speziellen Beiträgen der Mitgliedstaaten oder als komplett neue Förderbank eingerichtet werden. Letztere erforderte ebenfalls Einzahlungen der beteiligten Staaten als Kapital, um der Bank ein Top-Rating zu verschaffen. In beiden Fällen wäre wohl eine Beteiligung mindestens des Vereinigten Königreichs und Norwegens vorgesehen, die nicht EU-Mitglieder sind. Umgekehrt blieben Staaten wie Ungarn und die Slowakei, die sich höheren Rüstungsausgaben widersetzen, außen vor. Diese Optionen würden alle über intergouvernementale Verträge und nicht über die EU organisiert, ähnlich wie der Krisenfonds ESM.
Bleibt noch die Frage, ob die Sondervermögen mittelfristig Deutschlands Produktivität und damit die Wachstumsaussichten verbessern, wie es unter anderem IfW-Präsident Moritz Schularick kürzlich in Aussicht stellte. IWH-Ökonom Holtemöller ist da skeptisch. Dies sei von vielen Faktoren abhängig. „Wenn Rüstungsausgaben in Forschung und Entwicklung fließen und mit dem Geld neue Infrastruktur finanziert wird, kann das Produktionspotential steigen“, sagt Holtemöller.
Ganz anders sehe es aus, wenn das Geld für zusätzliche Soldaten oder das Beseitigen von Schlaglöchern ausgegeben werde. „Auch in Infrastruktur kann Geld versenkt werden“, warnt der Volkswirt. Die Erfahrungen aus der Finanzkrise, als Milliardensummen in Konjunkturprogramme flossen, stimmten eher skeptisch. Insgesamt vermisst Holtemöller eine politische Debatte über die Frage, wo zugleich Geld gespart werden kann. „Zur Wahrheit gehört dazu, dass es Einschnitte geben muss, um den absehbaren Ausgabenanstieg in den Bereichen Gesundheit und Rente zu bremsen“, sagt Holtemöller. Dazu sei aus Berlin bislang viel zu wenig zu hören.