Kultur

Kuratorin zu Theaterfestival in Dresden: „Bei den Kontexten wird es spannend“ | ABC-Z

EuropäerInnen aller Länder, vereinigt euch! So könnte das Motto des diesjährigen Theaterfestivals „Fast Forward“ lauten, das vom 14. bis zum 17. November in Dresden stattfindet und Theaterleute aus ganz Europa zusammenbringt. Mit Blick auf die sächsischen Landtagswahlen im September, bei denen die AfD als zweitstärkste Kraft hervorging, und bevorstehende Kürzungen im Kulturhaushalt sind Kulturformate wie das „Fast Forward“ wichtiger denn je.

taz: Frau Orti von Havranek, Europa gilt als der alte und keineswegs homogene Kontinent, aber beim „Fast Forward“-Festival geht es um Nachwuchs und junge Regie!

Charlotte Orti von Havranek: Ja, aber wir zeigen auch, dass es unterschiedliche Verankerungen von Theater in verschiedenen Gesellschaften gibt und damit vielleicht unterschiedliche Gründe, Theater zu machen.

taz: Und die Inszenierungen müssen auch nicht in ein Konzept passen, richtig?

Orti von Havranek: Ich laufe nicht mit einem bestimmten Bild im Kopf los, sondern gucke, was da ist. Wenn man erforschen möchte, was der Nachwuchs tut, muss man sich bewusst sein, dass man selbst nicht zu dieser Generation gehört. Also offen bleiben für das, was da ist, und keinem die eigenen Kriterien aufdrücken.

taz: Ich dachte bisher, im Theater bleibe man immer jung.

Orti von Havranek: Ich fing mit 19 Jahren an zu studieren und las mit 20 zum ersten Mal einen Text von Heiner Müller. Jetzt versuchen Sie mal, als 20-jährige westdeutsche Germanistikstudentin einen solchen Autor zu verstehen, wenn Sie den Kontext der Gesellschaft, in der er geschrieben und gedacht hat, überhaupt nicht kennen. Dieses fehlende Wissen um die Kontexte können Sie jetzt auf die meisten europäischen Länder übertragen. Aber genau hier fängt es natürlich an, spannend zu werden, besonders im Theater.

taz: Gilt das nicht noch mehr für die Transformationsgesellschaften des ehemaligen Ostblocks, die ja oft Schwerpunkt des „Fast Forward“-Festivals waren?


privat

Im Interview: Charlotte Orti von Havranek

geboren 1969, studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Hamburg. 2001 ging sie als Tanzdramaturgin an das Staatstheater Braunschweig, wo sie 2007 in die Schauspiel­dramaturgie wechselte. Ab 2011 koordinierte sie das von Barbara Engelhardt kuratierte europäische Festival für junge Regie „Fast Forward“ und verantwortete dessen Rahmenprogramm. Seit der Spielzeit 2018/2019 ist sie als verantwortliche Kuratorin des „Fast Forward“ tätig, das nunmehr zum achten Mal in Dresden stattfindet.

Orti von Havranek: In diesen Gesellschaften ist die Auseinandersetzung zwischen den Generationen ein großes Thema, also zwischen den noch vom Sozialismus Geprägten und den danach Geborenen, wenn man so will der Fast-Forward-Generation. Ich habe unterwegs unterschiedlich viel Zeit, auf dieses Hinterland einzugehen, und merke natürlich, wie oberflächlich das eigene Wissen über die Länder um uns herum bleibt.

taz: Schwerpunkte ergeben sich also ungewollt, wie in diesem Jahr der frankofone Akzent?

Orti von Havranek: Er hat sich dieses Jahr so ergeben, weil die beiden französischen und die beiden belgischen Arbeiten zusammen mit den anderen vier Inszenierungen für mich inhaltlich und formal eine größtmögliche Bandbreite zeigen. Natürlich versuche ich, diese Prozesse so lange wie möglich offenzuhalten. Manchmal sehe ich in verschiedenen Ländern viel Ähnliches. Aber Verschiedenheit finde ich für das Festival spannender, weil das die Kunstform erweitert.

taz: Sie kuratieren das Festival seit 2018. Ist mit ihrer persönlichen Auswahl nicht auch eine Machtposition verbunden?

Orti von Havranek: Klar, ich verteile etwas, weise Sichtbarkeit zu. Das tun viele am Theater, wenn sie zum Beispiel entscheiden, welche Regisseure inszenieren oder welche Spieler ein Ensemble bilden. Man muss sich fragen lassen, wie man mit dieser Verantwortung umgeht. Und Transparenz üben.

taz: Kann sich in sieben Dresdner Festivaljahren bei Ihnen eigentlich Routine einstellen?

Orti von Havranek: Theater ist immer neu. Ich habe als Tanz- und Schauspieldramaturgin gearbeitet, kenne Routine bei den organisatorischen Vorbereitungen, aber nicht bei künstlerischen Tätigkeiten. Ich glaube, ich würde aufhören, wenn ich anfange, routiniert zu werden.

taz: Können Sie im Vergleich der Jahrgänge Veränderungen beobachten?

Orti von Havranek: Wenn ich auf die Geschichte von „Fast Forward“ seit 2011 schaue, also beginnend in Braunschweig mit der Kuratorin Barbara Engelhardt, erinnere ich mich an eine Diskussion zum Verhältnis von Theater und Publikum. Manche der Künstler sagten damals, dass sie beim Produzieren nicht ans Publikum denken. Aber die Frage danach, welche Erfahrungsräume man dem Publikum eigentlich anbietet, beginnt, meiner Wahrnehmung nach, eine immer stärkere Rolle zu spielen. Das Nachdenken über das Theater als gesellschaftliche Kunstform hat einen größeren Stellenwert bekommen.

taz: Passt auf solche neue Hellhörigkeit das Modewort „Wokeness“? Es ging doch zugleich immer wieder um Persönliches, Privates, Intimes, etwa um Depressionen, wie auch im aktuellen Jahrgang.

Orti von Havranek: Ich meine eher die Wachheit, etwas zu produzieren, was dann Teil eines gemeinsamen Erlebnisses wird. Das ist natürlich keine neue Entdeckung. Aber wir brauchen einfach Zeit und Räume, um uns die Herausforderungen der heutigen Welt anzugucken. Daraus kann man Funken schlagen. Reale Erfahrungen projiziert in die Fiktion eines Kunstraums. Handeln auf Probe, wenn man so will.

taz: Dieser Jahrgang 2024 bringt eine Erweiterung der Kooperation mit lokalen Kulturträgern, oder?

Orti von Havranek: Ohne das Kunsthaus Dresden wäre das französische Projekt „Decazeville – la montagne qui brûle“ in der ehemaligen Kantine des DDR-Computerherstellers robotron kaum möglich gewesen. In der Video-Inszenierung von Nina Gazaniol Vérité geht es um eine vermeintlich abgehängte Kleinstadt im Südwesten Frankreichs, um deren Bewohner und deren Sehnsüchte. Für mich ist die Kantine so eine Art geheimes Zentrum von Dresden.

taz: Wegen der zyklisch hier stattfindenden „Ostrale“, der Dresdner Biennale für zeitgenössische Kunst?

Orti von Havranek: Eher wegen dem Skatepark daneben und dem Hygiene-Museum im Hintergrund, und das Rathaus liegt gegenüber. Ein geschichtlicher Ort für die Zeit nach 1945 und jetzt vielleicht ein Ort für ein anderes Selbstbewusstsein, oder eine andere Mitte, jedenfalls für etwas, das mit Nationalismus nichts zu tun hat.

taz: Hellerau und die Hochschule für bildende Künste zählen ja schon zu den bewährten Partnern.

Orti von Havranek: Das ist vielleicht auch wichtig mit Blick auf die Frage, was die junge Generation auszeichnet. Also Kooperation, Zusammenarbeit, eine Kultur des Miteinanders und weniger Konkurrenzverhalten. Deshalb sind Sparmaßnahmen und Kahlschläge bei unseren Partnern wie Hellerau fatal, weil sie zunichtemachen, was wir in den vergangenen Jahren praktiziert haben, nämlich miteinander und voneinander zu lernen.

taz: Möchten Sie etwas herausheben aus der gewohnten Mischung von kammerspielartigen intimen Performances und größeren Ensembles?

Orti von Havranek: Ich hänge immer an allen Arbeiten. Entscheidend bei einer Inszenierung ist für mich, dass Thema, Motivation und Form eine Aussage ergeben, über die man anschließend streiten kann.

taz: Und doch stellt sich damit die Frage nach der Jury. Der Vorjahrespreisträger Salim Djaferi mit der Soloperformance „Koulounisation“ ist ein derart gefragter Solist, dass er die „Belohnung“ mit einer Inszenierung am Dresdner Staatsschauspiel gar nicht wahrnehmen konnte.

Orti von Havranek: Bisher noch nicht, ja. Aber wir mussten nach 2012 auf die Inszenierung der zweiten „Fast Forward“-Preisträgerin Marta Górnicka auch mehr als zwei Jahre warten. Das Festival möchte gern ein Sprungbrett für Talente sein, und wir sind es oft auch über den Preis hinaus.

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