Künstliche Zellen: Forscherin revolutioniert Medizin mit RNA-Origami | ABC-Z

Vor gut vier Milliarden Jahren entstanden die ersten lebenden Zellen auf der Erde – aus simplen Formen. Wie dieser Übergang genau ablief, ist bis heute ungelöst. Dieses Rätsel möchte eine junge Heidelberger Forscherin nun endlich lösen, und zwar völlig anders, als Evolutionsforscher bisher vorgegangen sind: Sie möchte neues, künstliches Leben buchstäblich im Labor erschaffen, Baustein für Baustein. Kerstin Göpfrich arbeitet am Zentrum für Molekulare Biologie (ZMBH) der Universität Heidelberg. Als Biophysikerin ist sie dort inzwischen mehr Ingenieurin als Biologin. Und dennoch ist ihre Referenz die klassische, lebende Zelle oder vielmehr: das „Minimalsystem“ einer Zelle. Was sie also sucht und zusammenfügt, ist ein Bausatz für das Leben, der alle lebensnotwendigen Teile enthält. Und zwar so, dass sich das „neue Leben“ selbst vervielfältigen und weiterentwickeln kann. Und am Ende soll das Wissen darüber, wie man solche Systeme nachbauen kann, auch der Medizin nutzen.
Modellzeichnung einer eukaryotischen Zelle. F.A.Z.-Illustration und -Grafik: Swierczyna / Oberflächenstrukturen von Zellmembran, Zellkern und Nucleolus: Adobe Stock
Die Frage danach, wie Zellen genau entstanden sind, leitete Kerstin Göpfrich bei ihrem Werdegang. „Was studiert man, wenn man wissen will, was genau Leben eigentlich ist?“, fragte sie sich nach ihrem Schulabschluss im Jahr 2008. Sie begann, molekulare Medizin und Physik zu studieren, Antworten erhielt sie aber zunächst nicht.
Erst während eines Aufenthalts an der University of Cambridge im Jahr 2011, noch im Bachelorstudium, kommt sie den Antworten näher. Sie entdeckt die Forschungsgruppe von Ulrich Keyser, er ist Experimentalphysiker und Professor für Angewandte Physik am berühmten Cavendish Laboratory in Cambridge. Seine Arbeitsgruppe untersucht Transportprozesse durch Zellmembranen, das ist quasi die Haut, die alle Zellen umgibt. Für das Masterstudium geht Göpfrich nach Cambridge und soll als Stipendiatin in Keysers Labor die Poren von Zellen nachbilden – kleine Öffnungen in der Membran, die als Sensoren dienen und Stoffe in die Zelle hinein- und heraus- transportieren. „Wir fragten uns, ob es möglich ist, diese Poren aus dem Erbmaterial, der DNA, zu bauen – anstatt, wie es die Natur macht, aus Proteinen“, sagt Göpfrich.
Unterschiede der Informationsweitergabe durch RNA bei biologischen und künstlichen Zellen. Quelle: Nature Nanotechnology / F.A.Z.-Grafik: Swierczyna
Die Idee, die Erbsubstanz Desoxyribonukleinsäure – DNA – als Baumaterial zu benutzen, ist nicht neu. Sie geht auf den US-amerikanischen Biochemiker Ned Seeman zurück. Er ist einer der Pioniere darin, mit den Molekülen, die unsere Erbinformation speichern, Gerüste zu bauen. Anfang der 2000er-Jahre testete sein Kollege Paul Rothemund am California Institute of Technology dazu eine Falttechnik, die an Origami erinnert: Statt nach japanischer Art Papier zu Kranichen zu falten, faltete er aus DNA-Strängen flache Strukturen.
Die synthetische Zelle hat wie ihr natürliches Vorbild eine Membran aus Lipidmolekülen, ein Zellskelett, die Erbsubstanz DNA und Poren in der Membran. Anders als bei der natürlichen Zelle, deren Poren aus Proteinen bestehen, sind die der synthetischen Zelle aus RNA aufgebaut. Hier hervorgehoben ist eine künstliche Pore. (Größenverhältnisse nicht maßstabsgetreu) Quelle: Göpfrich / F.A.Z.-Grafik: Swierczyna
Für das von Rothemund geprägte DNA-Origami braucht es einen längeren Gerüststrang aus DNA und mehrere kurze Helferstränge. Die kurzen Stränge werden so ausgewählt, dass sie an definierten Stellen des langen Stranges binden. Das funktioniert über die Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, die sich in der energetisch günstigsten Konstellation zu komplementären Paaren zusammenfinden. Die an dem Gerüststrang befestigten kürzeren Stränge formen ihn schließlich in das gewünschte Design. So entstehen zum Beispiel winzige Poren für die Membran. Solche Poren aus DNA konnte Göpfrich tatsächlich auch bald nachbauen. Eigentlich sollte sie für ihre Doktorarbeit mit Rothemunds Origami-Technik nur Sensoren basteln. Doch sie fand spannende Antworten auf sehr viel weiter gehende Fragen: Wenn sich Poren nachbauen lassen, kann das auch für andere Komponenten einer Zelle gelingen? Sie dachte an das Zytoskelett, das die gesamte Zelle wie ein Gerüst durchspannt und stabil hält. Gelingt dies, ließe sich eine künstliche Vorläuferzelle in einer Hülle herstellen. Und die könnte, so die Idee, sich irgendwann selbst vervielfältigen und durch Evolution auch verändern, weiterentwickeln. Ihre Entwicklung zu verfolgen, könnte dann, so hofft Göpfrich, Hinweise liefern, wie Leben vor Milliarden Jahren entstanden ist. „Für mich war die DNA-Nanopore das erste Bauteil hin zu einer künstlichen Zelle“, sagt Göpfrich. Und es war ihr Schritt in die Fachrichtung synthetische Biologie. In der synthetischen Biologie existieren zwei Ansätze: Top-down und Bottom-up. Beim Top-down-Ansatz versuchen Wissenschaftler bestehende Zellen schrittweise so zu verschlanken, dass nur noch die minimale Ausstattung übrig bleibt. So können einzelne Komponenten und ihre Funktionen untersucht werden. Ein Ziel dieser Methode ist es etwa herauszufinden, welche Gene eine Zelle unbedingt braucht, um zu überleben.
Zytoskelette stabilisieren die Zellstruktur und dienen als zellinterne Transportwege. Quelle: Göpfrich / F.A.Z.-Grafik: Swierczyna
Bekannt geworden für diesen Ansatz ist der US-amerikanische Biochemiker und Genunternehmer Craig Venter. Er und sein Team haben im Jahr 2016 ein Bakterium hergestellt, das mit einem auf 473 Gene geschrumpften Erbgut lebensfähig war. Zum Vergleich: Das Darmbakterium Escherichia coli hat natürlicherweise rund 4500 Gene. Während Venter mit seiner bakteriellen Minimalzelle aus dem Labor eher eine lebendige Zelle von Grund auf verändert, versuchen Forscher mit dem Bottom-up-Ansatz genau das Gegenteil: Aus einzelnen Molekülen soll eine Zelle von Grund auf zusammengesetzt werden.
„Wir wollen aus toter Materie eine lebende Zelle bauen“, sagt Göpfrich. Diesem Ansatz begegnete sie nach ihrer Promotion, als sie in Stuttgart mit dem Physiker Joachim Spatz am Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung zusammenarbeitete. Damals forschte Göpfrich daran, wie man Mikrofluidik zum Bau künstlicher Zellen einsetzen kann. Die Mikrofluidik befasst sich mit der Bewegung und Steuerung winziger Flüssigkeitsmengen durch Mikrokanäle.
Zehn Jahre nach ihrem Bachelorabschluss wurde Göpfrich nach Heidelberg berufen und ist nun als Professorin mit ihrer Forschungsgruppe „Biophysical Engineering of Life“ dabei, mit diesem Ansatz Schritt für Schritt die Minimalversion einer lebenden Zelle aufzubauen.
„Wir haben keine vier Milliarden Jahre Zeit“, sagt Göpfrich. Die Minimalzelle soll sich selbst replizieren und entwickeln können und damit neue Eigenschaften hervorbringen. „Das ist mein Ziel.“
Eine Lipdschicht als künstliche Zellmembran. Quelle: Göpfrich / F.A.Z.-Grafik: Swierczyna
Bevor es so weit ist, muss die künstliche Zelle, das Minimalsystem, von ihrem zwanzigköpfigen Team aus Physikern, Biologen, Chemikern und Medizininformatikern sorgfältig verpackt werden. Dazu greifen sie auf Lipidvesikel zurück. Das sind Bläschen, die aus einer Schicht Fettmoleküle bestehen. Die Lipidschicht imitiert die Zellmembran, die bei natürlichen Zellen die lebenswichtigen Komponenten im Inneren von der äußeren Umgebung trennt.
Für die weiteren Bausteine der künstlichen Zelle nutzen die Wissenschaftler gefaltetes Erbgut, wie es die Biophysikerin bereits während ihrer Zeit in Cambridge kennengelernt und hergestellt hat. Doch statt auf gefaltete DNA greift die Heidelberger Gruppe bei ihrem Zell-Design auf Ribonukleinsäure-Moleküle – RNA – zurück. Viele Viren codieren ihre molekularen Bausteine mit dieser Nukleinsäure. Sie ist auch kettenförmig aufgebaut, aber weniger komplex als die DNA. Sie lässt sich auch variabler falten und steht in der Chronologie der frühesten Lebensformen wahrscheinlich ganz vorne – jedenfalls noch vor der DNA. Um die RNA herzustellen, lässt Göpfrichs Team die mit der Bauanleitung programmierte DNA von Enzymen in RNA umschreiben. Die faltet sich dann selbständig zu den gewünschten Bausteinen.
In der synthetischen Zelle liest das Enzym RNA-Polymerase die Information aus der DNA aus (1) und setzt aus Nukleotidmolekülen einen RNA-Strang zusammen (2, 3). Dieser faltet sich selbständig zusammen (4, 5), beispielsweise zu einer RNA-Nanoröhre (7). Quelle: Nature Nanotechnology / F.A.Z.-Grafik: Swierczyna
In der frühen RNA-Welt, so die Theorie, waren gefaltete RNA-Moleküle auch deshalb so entscheidend, weil sie als sogenannte Ribozyme selbst die für das Leben notwendigen biochemischen Reaktionen in Gang brachten. Sie speicherten also nicht nur die Informationen für den Bausatz der primitiven Zellvorläufer, sondern sie beschleunigten auch chemische Reaktionen. Was es für Göpfrichs RNA-Welt braucht, sind also vor allem die Bausteine der RNA.
Gefüttert mit diesen Komponenten, entsteht RNA, die sich zu verschiedenen Strukturen faltet, so auch zu Nanoporen. Mithilfe von computergestützten Designs, 3D-Druck-Verfahren, Mikroskopen und anderen Werkzeugen haben die Forscher auf diese Weise bereits einige Zellporen gebaut. „So kann unser System an weitere Nährstoffe kommen, die es später braucht, um sich selbständig weiterzuentwickeln“, erklärt die Biophysikerin. Darüber hinaus hat das Forscherteam eine Art Zellskelett, ebenfalls aus RNA, gefaltet. Ohne dieses Skelett könnte die künstliche Zelle kollabieren, vor allem aber verliert die Zelle auch ihre Beweglichkeit.
Göpfrichs Konzept, eine synthetische Zelle mit ihrer ganzen Maschinerie von Grund auf mit RNA-Origami zu bauen, ist international bisher wenig verbreitet. Es ist ein langer Weg. Lange bevor in vielen Jahren womöglich ihre Minimalzelle aus dem Labor fertig konstruiert sei, so Göpfrich, könne in näherer Zukunft mit hilfreichen Nebenprodukten ihrer Forschung gerechnet werden. Einige der RNA-Designs könnten etwa im Kampf gegen Infektionskrankheiten und Krebs nützen, sagt sie.
Tatsächlich ist der mRNA-Impfstoff gegen Covid-19 eine einfache Vorstufe, die zeigt, wie die in der RNA gespeicherte und in Fettvesikeln verpackte Information medizinisch genutzt werden kann. Im Impfstoff ist der Bauplan für das Spike-Protein des Coronavirus enthalten. Unsere Körperzellen produzieren anhand des Bauplans dann das Spike-Protein, das die Immunzellen so erkennen können. Die Abwehr wird dadurch aktiviert und bildet Antikörper gegen das Protein. Bei einer erneuten Infektion erinnert es sich an das Protein und schützt den Patienten vor dem Virus.
Göpfrichs Liste der möglichen Anwendungen ihrer Technik ist lang: Zum Beispiel plant sie, Aptamere zu basteln – Moleküle aus RNA-Strängen, die durch spezifische Faltung an Bakterien oder Viren binden können und sie anschließend zerstören. „Unsere RNA-Designs könnten es möglich machen, mehrere Aptamere aneinanderzuheften, sodass das Medikament besser wirkt“, sagt die Biophysikerin. Irgendwann könne man eine künstliche Immunzelle bauen. Beispielsweise eine, die nicht nur einen Medikamentenwirkstoff oder einen Impfstoff in den Patienten bringt, sondern mithilfe von Aptameren eine Krebszelle erkennt und mit den im Vesikel eingekapselten Abwehrstoffen attackiert.
Der mögliche medizinische Nutzen ist das eine. Künstliche, aber lebende Zellen zu schaffen und zu vervielfältigen, aber etwas ganz anderes. Die neue Lebensform könnte, ja sie wird vermutlich auch mutieren, sich zu Wesen mit bisher unbekannten Eigenschaften entwickeln. Diese Angst will Göpfrich erst einmal ihrem Publikum nehmen. Ihre primitive Laborzelle sei noch sehr einfach gebaut und zerbrechlich. Und vor allem: noch nicht lebendig. Ein winziger Tropfen Seife zerstört das Konstrukt, Gefahr gehe von ihr nicht aus. Doch sie weiß auch: Je näher sich Göpfrich ihrem Ziel einer lebenden Kunstzelle nähert, desto strenger werden die Vorgaben für die biologische Sicherheit im Labor. Und die ganz grundsätzlichen Fragen nach der Ethik, der moralischen Bewertung der Gesellschaft? Ihre Arbeit habe nichts mit Reproduktionsmedizin oder Ähnlichem zu tun, betont sie. „Wir spielen mit Molekülen, aber nicht Gott.“





















