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Kunstblut in „Medeas Kinder“: Die Performerin hängt am Fleischerhaken | ABC-Z

Am Ende seiner Inszenierung „Medeas Kinder“ zieht der Regisseur Milo Rau alle Horror-Register. Ein Kind nach dem anderen jagt die junge Frau, die eine belgische Mörderin spielt, ins Haus. Schreien, Würgen, Röcheln. Im Video über der Bühne erscheint ihr Gemetzel in Nahaufnahme. Durchschnittene Kehlen, Messer, die sich durch nackte Kinderhaut bohren, und natürlich: Blut, Blut, Blut.

Obwohl man sehen kann, dass die Kindsmord-Szenen voraufgezeichnet sind, beginnt jetzt auch das Würgen im Zuschauerraum. Ein Mann übergibt sich. Viele Menschen verlassen den Saal, manche kollabieren auf dem Weg nach draußen.

Bei einem dieser Gastspiele an der Berliner Schaubühne hat die erfahrene Theaterärztin Luise Schnitzer Dienst: „Ich wurde rausgerufen, weil zwei Menschen weiche Beine bekommen haben und draußen zusammengesackt sind.“ Junge Männer, denen ihre Körperreaktion sichtlich unangenehm ist: „Sie denken, sie sind nicht tough genug.“

Was im Körper passiert, ist leicht zu erklären: Die Gefäße weiten sich, das Blut fließt in die Beine, das Gehirn ist unterversorgt. Die Ärztin legt den Patienten die Beine hoch, kühlt den Nacken, dann geht’s wieder. Doch warum streikt unser Körper, wenn sein hochentwickeltes Gehirn ihm doch klar sagen kann: Das ist Kunstblut! Niemand wird verletzt!

Die Kunst im Gehirn

Eine Antwort darauf weiß der Neuropsychologe Eugen Wassiliwizky. Er erforscht am Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt, wie sich Kunst auf den Körper auswirkt. Der Mensch, sagt er, produziert seit fast 100.000 Jahren Kunst – aber die Region, die Kunst im Gehirn anspricht, ist viel älter.

Das Gehirn kann nicht unterscheiden, ob jemand auf der Bühne umgebracht wird – oder nur so getan wird, als ob. „Es gibt kein Extra-Modul für die Kunst-Emotion“, so Wassiliwizky. „Das heißt, die Emotionen, die wir erleben, sind keine Quasi-Emotionen, sondern reale Emotionen.“

Wassiliwizky geht noch weiter. Jene Erlebnisse, die sich körperlich manifestieren – durch Gänsehaut, Tränen, erhöhten Puls – erinnern wir länger und intensiver: „Künste sind dazu in der Lage, uns Reaktionen abzuringen, die wir nur in äußersten Extremsituationen erleben würden. Das wird privilegiert abgespeichert im Gehirn.“

Man könnte also sagen: Künstler wie Milo Rau sorgen für unvergessliche Kunsterlebnisse, indem sie die körperliche Reaktion ins Extrem treiben. Doch Kunstblut und reales Blut scheinen dabei nicht komplett austauschbar zu sein.

Wenn die Realität kippt

Wenn die Vereinbarung, so Wassiliwizky, dass Theater ein Safe Space ist, kippt, wenn reale Verletzungen sichtbar werden, wie etwa in den Inszenierungen der Extrem-Performerin Florentina Holzinger, führt das noch leichter zu körperlicher Überforderung.

„In der Oper gewesen – gekotzt“, lautete die Überschrift der FAZ-Kritik zu Holzingers Inszenierung „Sancta“. Zwar war der Medienskandal reichlich aufgebauscht, aber dass bei „Sancta“ mehr Menschen als sonst Übelkeit verspürten oder ohnmächtig wurden, konnte die Oper Stuttgart nach dem Gastspiel dort durchaus bestätigen. Der Grund: Die Performerinnen fügen sich echte Verletzungen zu.

Der Filmwissenschaftler Julian Hanich forscht zum Thema Ekel im Kino und weiß, dass Abwehrreaktionen wie Ohnmacht und Erbrechen häufig dann vorkommen, wenn das Objekt des Ekels im Close-up zu sehen ist. Horrorfilme und Teenager-Komödien lieben es, uns mit Körperflüssigkeiten sehr nah zu kommen.

„Und zwar so nahe, dass man sich abwendet, die Augen verschließt, versucht, an etwas anderes zu denken, um das Objekt des Ekels buchstäblich auf Distanz zu bringen“, sagt Hanich. Das haben sich Milo Rau und Florentina Holzinger abgeschaut: Die meisten Verletzungen, die man in ihren Arbeiten sieht, werden per Video in Nahaufnahme gezeigt.

Im besten Fall werden Reflexionsprozesse angestossen

„Diese Provokation kann im besten Fall einen Reflexionsprozess in Gang bringen“, so der Filmexperte. Bei Florentina Holzinger ist es die Reflexion über Geschlecht, Schmerz, Ekstase, Tod. Doch warum setzen wir uns diesen Arbeiten überhaupt freiwillig aus?

Und warum spielen Künst­le­r:in­nen so gern mit negativen Emotionen wie Angst und Ekel, statt mit überschäumender Freude? Erstens, so Eugen Wassiliwizky, machen wir gern intensive Erfahrungen. Ohne die Künste, ohne Geisterbahnen und Achterbahnen, die extreme Situationen im Safe Space simulieren, könnten wir selten so tiefgreifend erleben. Zweitens: „Negative Erfahrungen werden intensiver verarbeitet.“

Biologisch macht das Sinn, da das Lernen aus negativen Erfahrungen unser Überleben sichert. In den Künsten gibt es keine Beispiele, die ausschließlich mit positiven Emotionen arbeiten. Komödien setzen Fremdscham und Schadenfreude ein, Dramen die Sorge um die Protagonisten, die in der psychologischen Forschung nicht als uneingeschränkt positiv gilt.

Und selbst in der rührseligsten Schmonzette müssen die Liebenden erst schwere Hürden überwinden, bis sie tränenreich zueinanderfinden. „Sie werden keine Oper, keinen Film, keinen Roman finden, der nicht die Register der negativen Emotionen zieht.“

Warum kippen nicht alle um?

Dass nicht alle Zu­schaue­r:in­nen gleichzeitig ohnmächtig werden, liegt wohl an der Fähigkeit, sich immersiven Kunstvorgängen entziehen zu können. Kri­ti­ke­r:in­nen zum Beispiel haben gelernt, sich in solchen Momenten auf die Machart der Horrorszene zu konzentrieren.

Zudem spielen vermutlich Sehkonventionen eine Rolle. In London etwa muss wegen Ohnmachtsanfällen regelmäßig die Show „The Years“ nach dem Buch von Annie Ernaux unterbrochen werden. Aufgrund einer Sequenz, bei der das schockerprobte deutsche Publikum kaum mit der Wimper zucken würde: Eine junge Frau zieht eine Hand mit Kunstblut unterm Rock hervor, es sind die Nachwirkungen ihrer illegalen Abtreibung.

Welcher Sinn den größten Eindruck hinterlässt, ist nicht eindeutig belegbar. Da das Riechen am direktesten mit dem Gehirn verbunden ist, könnte man darauf tippen. Auch visuelle Reize stehen weit oben, sagt der Filmexperte Julian Hanich. Doch Geräusche können ebenfalls einen starken Effekt haben.

Zum Beispiel das schmatzende Fleisch bei Florentina Holzinger. Und wie wäre es, müsste man die Wunden, die sich die Holzinger-Performerinnen zufügen, berühren? Klar ist jedenfalls: Umso mehr Sinne involviert sind, umso stärker die körperliche Resonanz. „Umso mehr Kanäle hinzukommen, umso leichter ist es, intensive Emotionen auszulösen“, hat Eugen Wassiliwizky erforscht.

Und damit wäre nun auch geklärt, weshalb das oft als irrelevant verrufene Theater, das nun einmal alle Sinne anzusprechen vermag, die größten Kunst-Skandale auslösen kann. Im Jahr 2025 ritzen sich bei Florentina Holzinger auf der Bühne ein paar Frauen in die Haut – und das Publikum steht kopf.

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