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Wahlkampfauftritt mit Lars Klingbeil: Olaf Scholz’ Traum vom Sieg in allerletzter Minute – und wie es wirklich weitergeht mit der SPD | ABC-Z

Im Wahlkampf-Endspurt glaubt nur noch der Kanzler an eine Trend-Wende. In der SPD wird dagegen schon mal das Personal für die Zeit danach sortiert und die Frage erörtert, ob Parteichef Klingbeil nach dem Sonntag ein Verlierer sein wird – oder doch der nächste Hoffnungsträger.

Es geht jetzt auf das Ende zu. Noch zwei Fragerunden „Olaf Scholz im Gespräch“ in Köln und Leverkusen am Freitagvormittag und Freitagmittag. Später am Nachmittag dann der große Wahlkampfabschluss der SPD in der Dortmunder Westfalenhalle. Am Sonnabend schließlich noch ein letzter Auftritt, zu Hause in Potsdam, im eigenen Wahlkreis – dann ist es vorbei. Dann ist die Zeit des Wahlkämpfers Olaf Scholz, so sehen es vier Tage vor der Bundestagswahl selbst eingefleischte Sozialdemokraten, abgelaufen.

Viermal ist der 66-Jährige in den vergangenen 14 Jahren als Spitzenkandidat der SPD angetreten. 2011 und 2015 bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg. 2021 und 2025 dann als Kanzlerkandidat seiner Partei im Bund. Drei dieser vier Wahlen hat Scholz gewonnen. Bei der vierten ist er selbst inzwischen so ziemlich der Einzige, der einen Erfolg doch noch für möglich hält.

Gerade bei dieser Wahl, so erzählt es der Sozialdemokrat am Donnerstagabend am Rande seines fünftletzten Wahlkampftermins im niedersächsischen Bad Fallingbostel, würden sich viele Wählerinnen und Wähler „erst in der Wahlkabine“ entscheiden, wo sie ihr Kreuzchen machen sollen. Es ist der in solch eher aussichtslosen Lagen nicht seltene Traum des absehbaren Wahlverlierers von einem „Last minute swing“. Von einer plötzlichen Richtungsänderung eines verfestigten Trends. Von einem Sieg in allerletzter Minute.

Folgerichtig antwortet Scholz auf die Frage, ob es für ihn noch einen fünften Wahlkampf als Spitzenkandidat geben werde mit „Ja“. Ja mit großem Ausrufezeichen, mit dem Brustton der Überzeugung. Dann lächelt der Kanzler für einen Moment dieses verschmitzte Scholz-Lächeln, ganz in sich hinein. Als wüsste er es eben doch wieder ein bisschen besser als seine verdutzten Zuhörer.

Neben Olaf Scholz steht an diesem Abend in der Fallingbosteler Heidmark-Halle Lars Klingbeil, der SPD-Vorsitzende, der hier in der Lüneburger Heide seinen Wahlkreis hat. Klingbeil ist Scholz’ Wegbegleiter, seit dieser im Jahr 2018 aus Hamburg nach Berlin wechselte, dort Finanzminister wurde, aber nicht SPD-Vorsitzender, was er 2019 gern geworden wäre. Klingbeil war damals SPD-Generalsekretär und derjenige, der zwei Jahre später maßgeblich dafür sorgte, dass Scholz trotz der erlittenen Niederlage im Ringen um den SPD-Vorsitz Kanzlerkandidat wurde.

Auch vor dieser Wahl war es am Ende der im benachbarten Soltau geboren Klingbeil, der nach einigem Zögern die Entscheidung traf, dass Scholz und nicht der bei den Menschen deutlich beliebtere, vielleicht aussichtsreichere Verteidigungsminister Boris Pistorius. Auch der SPD-Vorsitzende hat also etwas zu verlieren am kommenden Sonntag. Seinen Wahlkreis natürlich, den er 2021 mit mehr als 46 Prozent der Stimmen für sich gewinnen konnte. Den Parteivorsitz, der nach dieser absehbar wenig erfolgreichen Wahlkampagne zumindest gefährdet ist. Und natürlich seinen Ruf als potenzieller Hoffnungsträger der deutschen Sozialdemokratie.

Anders als Scholz kann Klingbeil seine wahren Gefühle nicht besonders gut verbergen, was ihn deutlich nahbarer wirken lässt als den kühlen Kanzler, aber eben auch angreifbarer, verletzlicher. Der SPD-Chef begrüßt die rund 650 Zuhörer an diesem Abend in Bad Fallingbostel. Er hakt in seiner kurzen Rede die wichtigsten Punkte des sozialdemokratischen Wahlprogramms ab. Soziale Gerechtigkeit, Investitionen in Deutschlands Infrastruktur und Sicherheit, die Reform der Schuldenbremse. Dann hält Klingbeil noch eine kleine Laudatio auf den Kanzler.

Der SPD-Chef betont zunächst, dass es „etwas sehr, sehr Besonderes“, „etwas sehr Emotionales“ für ihn sei, „wenn der Bundeskanzler, mit dem ich seit Jahren eng zusammenarbeite und ein Vertrauensverhältnis habe, in meine Heimat, in unsere Heimat kommt und hier den Bürgerinnen und Bürgern Rede und Antwort steht. Das ist für mich ein sehr schöner Termin, auf den ich mich sehr gefreut habe.“ Der SPD-Chef betont noch einmal, wie er sich habe verlassen können auf den Kanzler, wie Scholz die Krisen der vergangenen Jahre umgetrieben hätten, wie er es sich nie leicht gemacht, sondern immer „das Beste für das Land rausgeholt“ habe. Das klingt dann alles schon sehr nach Abschied, nach Dankbarkeit, nach Wehmut.

Aber darüber mag natürlich kein sozialdemokratischer Wahlkämpfer reden, so kurz vor einer Wahl, die allemal das Zeug dazu hat, eine Zäsur sein in der Geschichte der SPD. Landet die Partei an diesem Sonntag bei jenen 15, 16 Prozent, die ihr die Umfragen seit Monaten vorhersagen, dann wäre es das schlechteste Ergebnis für die Sozialdemokraten seit Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949. Platz drei hinter der Union und der AfD, noch einmal fünf Prozent weniger als 2017 mit dem Spitzenkandidaten Martin Schulz, dessen Karriere mit dieser Niederlage endete. Es spricht wenig dafür, dass es Olaf Scholz nach dem kommenden Sonntag anders ergehen könnte.

Er selbst hat ja bereits wissen lassen, dass er nicht Teil eines Kabinetts des mutmaßlichen Wahlsiegers Friedrich Merz sein wolle. Dass Scholz sich im Fall einer Niederlage an sein Amt klammert wie weiland Gerhard Schröder nach seiner verlorenen Aufholjagd gegen Angela Merkel, ist mehr als unwahrscheinlich. Eine solche Blöße würde sich dieser auch ein wenig ehrpusselige Kanzler niemals geben wollen.

Wesentlich unklarer dagegen die Konsequenz, die sich für den Rest der SPD-Spitze ergeben werden. An Lars Klingbeil zum Beispiel scheiden sich bei den Sozialdemokraten gerade die Geister. Ist er auch ein Verlierer? Oder doch eher ein Hoffnungsträger?

Es gibt Anhänger des Parteichefs, zum Beispiel in der Fallingbosteler Heidmark-Halle, die davon ausgehen, dass der Parteichef selbst bei einer deutlichen Niederlage im Amt bleibt, später dann, in einer neuen Bundesregierung, zusätzlich Vizekanzler wird oder aber die Führung der Bundestagsfraktion übernimmt.

Andere, auch führende, norddeutsche Sozialdemokraten gehen dagegen davon aus, dass sowohl Klingbeil als auch seine Co-Vorsitzende Saskia Esken eine deutliche Wahlniederlage mit dem Rückzug von ihren bisherigen Ämtern quittieren müssten. Ob ein solcher Schritt dem vergleichsweise jungen Klingbeil in der Frage seiner weiteren Verwendung am Ende schaden oder vielleicht sogar nutzen könnte, bleibt vorerst offen. Einig sind sich die Sozialdemokraten dagegen, dass die entsprechenden parteiinternen Debatten möglichst erst nach der Bürgerschaftswahl in Hamburg geführt werden sollten. Sie findet eine Woche nach der Bundestagswahl statt. Die SPD hat in der Elbmetropole, anders als im Bund, beste Chancen auf einen Wahlsieg.

Mit Blick auf diese Hamburg-Wahl dürfte auch Rolf Mützenich, SPD-Fraktionschef im Bundestag, darum gebeten werden, dieses Amt zumindest bis zur Bildung einer neuen Bundesregierung fortzusetzen. Und noch eine Entscheidung muss die SPD-Spitze womöglich sehr zügig treffen. Welche Politikerinnen und Politiker die Partei in Sondierungsverhandlungen über die Zusammensetzung der künftigen Bundesregierungen schicken soll. Als gesetzt gelten Verteidigungsminister Boris Pistorius und, trotz der genannten Zweifel, Lars Klingbeil. Was beiden einen Vorsprung in einem möglichen Rennen um künftige Regierungsämter verschaffen würde.

Zwei Niedersachsen also, zu denen sich nach den Partei-Usancen zumindest zwei Sozialdemokratinnen aus anderen Bundesländern gesellen müssten. Genannt werden die bisherige Bundestagspräsidentin Bärbel Bas aus Nordrhein-Westfalen als Vertreterin der Bundestagsfraktion sowie eine der beiden SPD-Ministerpräsidentinnen, Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern) und Anke Rehlinger (Saarland) als Vertreterin der sozialdemokratisch geführten Bundesländer.

Es gibt viel Beifall für Scholz und Klingbeil in Bad Fallingbostel und eine lange, lange Reihe von Menschen, die noch ein Bild von sich und dem Noch-Kanzler mit nach Hause nehmen möchten. Dann verlassen die beiden Politiker die Heidmark-Halle. Sie haben sich zum gemeinsamen Abendessen verabredet. Es gibt einiges zu besprechen.

Korrespondent Ulrich Exner ist bei WELT vor allem für die norddeutschen Bundesländer zuständig.

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