News

Lammert zu Union-Basis und Merz: “Der Ärger ist verständlich” | ABC-Z

Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert erkennt einen Politikwechsel im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Der langjährige CDU-Politiker schlägt im Interview mit ntv.de aber auch kritische Töne an. Das eher schwache Wahlergebnis von CDU und CSU habe ihn nicht überrascht. Er versteht auch den Ärger an der CDU-Basis über Merz und erklärt, warum.

ntv.de: Herr Lammert, wir leben in interessanten Zeiten. Handelskrieg, Ukraine, Gaza, Klimawandel – um nur einige Schlagworte zu nennen. Können Sie verstehen, wenn man sich manchmal nur noch unter der Bettdecke verkriechen möchte?

Norbert Lammert: Weniger interessante Zeiten wären mir auch lieber. Aber mindestens für die Politik gilt: Das Wegducken vor Herausforderungen läuft auf Realitätsverweigerung hinaus. Wir müssen uns den Herausforderungen stellen. Es hilft ja nichts.

Sie sind 76 Jahre alt und saßen 37 Jahre, von 1980 bis 2017, im Bundestag. Es ist nicht das erste Mal, dass es schwere Krisen gibt. Aber sind es momentan nicht besonders viele auf einmal?

Wir neigen alle dazu, unangenehme Entwicklungen für beispiellose Zumutungen zu halten. Ich vermute, das ist eher übertrieben. Wir sind mit vielen Krisen konfrontiert, aber wir haben auch Mittel, sie zu bewältigen. Das war früher gewiss nicht leichter.

Was meinen Sie?

Die Lage Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg war sicher nicht weniger krisenhaft als die heutige. Aber unserer Eltern- und Großelterngenerationen standen beinahe keine Mittel dagegen zur Verfügung. Sie haben trotzdem gesagt: Wir packen das jetzt an. Daraus haben sie eine der stabilsten Demokratien und eines der wohlhabendsten Länder der Welt aufgebaut. Gemessen an dem, was sich frühere Generationen zugemutet und zugetraut haben, kommt mir manchmal unser heutiges Verhältnis zu unbestritten großen Herausforderungen beinahe kleinmütig vor.

Die Bundestagswahl endete für Union und SPD ernüchternd. CDU und CSU erreichten nur 28,6 Prozent, die SPD ein Schatten ihrer selbst, die AfD bei gut 20 Prozent. Was haben Sie am Wahlabend gedacht? Auch “Hilft ja nichts”?

Ich war von dem Ergebnis nicht so überrascht wie manch andere. Aber es hat mir natürlich genauso wenig gefallen. Es hilft jetzt nicht weiter, darüber zu spekulieren, um wie viel besser es hätte sein können. Wir müssen mit den Ergebnissen umgehen.

Warum waren Sie nicht überrascht?

Mein Bauchgefühl sagte mir, dass wir ein Übertreffen der 30-Prozent-Marke eher nicht erwarten konnten. Aber hinterher kann das jeder behaupten.

Ab wann hatten Sie im Wahlkampf dieses Bauchgefühl?

Es war nicht ein einzelner Punkt oder eine Entscheidung. Eher die Kombination von vielem gleichzeitig. Zum Thema Schuldenbremse gab es weder eine ultimativ strenge noch eine offensiv auflösende Position. So konnten sich weder Befürworter des einen noch des anderen sicher sein, wie sich die Partei nach der Wahl verhalten würde. Zum Thema Koalitionspartner haben CDU und CSU zwei sich ausschließende Positionen vertreten. Die einen wollten auf gar keinen Fall mit den Grünen, die anderen gegebenenfalls schon. So mussten die Wählerinnen und Wähler beides für möglich halten.

Welche Rolle spielten die gemeinsamen Abstimmungen mit der AfD im Bundestag?

Natürlich spielte auch die Entscheidung eine Rolle, die Unterstützung eines eigenen Gesetzentwurfs zur Migration im Bundestag nicht von der Zustimmung der AfD abhängig zu machen. Das hat nicht die ausdrückliche Position gestärkt, vor der Wahl keine Initiative zu starten, bei der die Mitwirkung der AfD ausschlaggebend sein könnte.

So hatte es CDU-Chef Friedrich Merz im November versprochen.

Das Verhalten der CDU/CSU-Fraktion kann man in der Sache durchaus begründen. Ich habe das nicht für falsch gehalten. Die Lage im Januar nach mehreren Anschlägen war ja eine durchaus andere als im November. Aber es war eben nicht das, was man vorher angekündigt hatte.

Besonders verärgert sind viele Unionswähler über die Wende bei der Schuldenbremse. Können Sie das verstehen?

Der Ärger ist verständlich. Aus meiner Sicht ist aber nicht die Lockerung der Schuldenbremse das Hauptproblem. Die ist auch gar nicht so umstritten in der Bevölkerung. Merz hatte angekündigt, über die Schuldenbremse könne man überhaupt erst dann reden, wenn alle Einsparpotenziale im Bundeshaushalt durchgecheckt und die notwendigen Kürzungen markiert worden sind.

Also irgendwann später in der Legislatur, vielleicht 2027 oder 2028.

Die Wahrnehmung der Öffentlichkeit war zunächst: Anstelle unpopulärer Veränderungen im laufenden Budget ist ein großes Kreditfass aufgemacht worden. So erklärt sich das Unbehagen eines Teils der Wählerinnen und Wähler, nicht nur jener der Union.

War das eine Täuschung der Wähler?

Nein, das war ganz sicher nicht die Absicht. Das ist eine besonders ärgerliche Konstellation, die es in der Politik gelegentlich gibt: Zwischen dem, was man bewirken will, und der Wirkung, die tatsächlich eintritt, entsteht eine Diskrepanz.

Merz sagt, die Entwicklungen seit der Bundestagswahl seien so nicht zu erwarten gewesen, insbesondere das Abkanzeln des ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Weißen Haus und die Rede von JD Vance bei der Münchener Sicherheitskonferenz. Überzeugt Sie das?

Nicht alles, was wir seitdem erlebt haben, ist wirklich überraschend. Dass zu den wichtigsten Veränderungen, die schnell vereinbart werden mussten, die Mehrwertsteuersenkung für die Gastronomie, eine Erhöhung der Pendlerpauschale und die Ausweitung der Mütterrente gehören, war vor und nach den jüngsten Eskapaden der Trump-Administration nicht wirklich plausibel.

Wie finden Sie die Grundgesetzänderungen? Das Sondervermögen für Infrastruktur, die Lockerung der Schuldenbremse für Verteidigung und die Bundesländer?

Bei jedem Fußballspiel ist die Analyse von der Tribüne aus einfacher als auf dem Spielfeld. An dieser Art von Klugscheißerei möchte ich mich nicht beteiligen. Es ist viel einfacher, Vereinbarungen zu kritisieren, als sie zustande zu bringen. Aber noch einmal: Wenn man im Wahlkampf zurecht auf die Notwendigkeit großer Veränderungen hinweist, dann müssen die vereinbarten Maßnahmen den Ansprüchen dieser großen Herausforderungen genügen.

Tun sie das?

Jedenfalls gibt der Koalitionsvertrag konkrete Antworten auf viele Fragen, die im Sondierungsergebnis noch offen geblieben waren. Ein Politikwechsel ist erkennbar. Der Koalitionsvertrag gibt auch Skeptikern gute Gründe, der Koalition jetzt eine Chance zu geben und mitzuhelfen.

Kann Schwarz-Rot jetzt überhaupt noch ein Erfolg werden?

Das hoffe ich sehr und erwarte es auch. Wir haben in diesem Land einen riesigen Veränderungsbedarf, aber keinen riesigen Veränderungswillen. Zwischen der Notwendigkeit, vieles zu verändern, und der Bereitschaft, notwendige Veränderungen zu akzeptieren, besteht eine gewaltige Lücke. Das wird die eigentliche Schlüsselfrage für die neue Koalition sein: Gelingt es ihr, den Veränderungsbedarf zu verdeutlichen und gleichzeitig die Zuversicht zu vermitteln, dass das möglich ist?

Brauchen wir jetzt wieder die Wehrpflicht?

Ich bin dafür. Wir brauchen die Wehrpflicht. Optimalerweise sollte die Wehrpflicht Bestandteil einer allgemeinen Dienstverpflichtung sein. Bei der sich alle jungen Menschen, auch Frauen, für den einen oder anderen sozialen Dienst oder eben den Wehrdienst entscheiden können. Dafür bräuchte es aber eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Damit rechne ich nicht. Daher wäre es töricht, die Wehrpflicht nicht wieder einzusetzen.

Warum finden Sie eine Dienstpflicht zumutbar?

Ich finde schon die Frage kurios. Wir alle betrachten die Bedingungen als selbstverständlich, unter denen wir in Deutschland leben, in einem freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat und Sozialstaat. Da fragen wir uns ernsthaft, ob es zumutbar sei, einen kleinen Teil der Biografie für einen selbst gewählten Gemeinschaftsdienst zur Verfügung zu stellen?

Das können Sie nicht nachvollziehen?

Sie ahnen gar nicht, was ich alles nachvollziehen kann. Aber ich habe selbst einen 18-monatigen Wehrdienst geleistet. Das war sicher nicht der Höhepunkt meiner Biografie. Dass er mir aber geschadet hätte oder unzumutbar gewesen wäre, kann ich auch nicht reklamieren. Dafür zu bequem zu sein, während andere sich darum kümmern, die Rahmenbedingungen stabil zu halten, unter denen ich von dieser Bequemlichkeit Gebrauch machen kann, das finde ich nur schwer nachvollziehbar.

Reden wir über Ihre alte Wirkungsstätte, den Bundestag. Dort stellt die AfD wieder keinen Vizepräsidenten. Ist das noch vertretbar bei so vielen Abgeordneten?

Auch die Grünen haben ab 1983 mehr als zehn Jahre warten müssen, bis sie zum ersten Mal im Präsidium des Deutschen Bundestages vertreten waren. Damals gab es noch Zweifel an ihrer parlamentarischen Gesinnung. Die AfD hat ihrerseits seit 2017 keinen Bundestagspräsidenten mitgewählt, der von der größten Fraktion nominiert worden war. Dazu hat sie jedes Recht. Sie erwartet aber von den anderen Fraktionen, ihren Vizekandidaten zu wählen. Folgerichtig ist das nicht. Mit bemerkenswerter Virtuosität spreizt sich die AfD als Alternative zum System und will gleichzeitig von der Mehrheit anderer Fraktionen als Repräsentant des obersten Verfassungsorgans gewählt werden. Dabei fällt auf, dass der Stimmenanteil der AfD-Kandidaten von Wahl zu Wahl immer geringer geworden ist.

Wenn Sie sich jetzt Bundestagsdebatten anschauen, denken Sie manchmal: Ach, ich hätte schon noch Lust, wieder da zu sitzen?

Im Gegenteil. Die Überzeugung, zum richtigen Zeitpunkt gegangen zu sein, wird mit Blick auf die veränderte Zusammensetzung des Bundestages eher größer.

Die AfD kam erst 2017, also nach dem Ende Ihrer Amtszeit, in den Bundestag.

So ist es.

Vermissen Sie Gregor Gysi?

Nicht wirklich. Jedenfalls nicht mehr als andere Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich mal mehr oder weniger auffällige Scharmützel ausgetragen habe.

Sie hatten eine gute Mischung aus Ernst und Humor als Bundestagspräsident. Können Sie der neuen Bundestagspräsidentin Julia Klöckner einen Tipp geben, wie man das hinbekommt?

Nein. Jeder und jede muss und darf dieses schöne Amt neu interpretieren. Wenn ich mir die Reihe der Kanzler, Bundespräsidenten und Bundestagspräsidenten ansehe, dann ist ein und dasselbe Amt ganz unterschiedlich wahrgenommen worden. Das hat dem Amt nicht geschadet, sondern es vitaler gemacht.

CSU-Chef Markus Söder sagt, die nächste Regierung sei die letzte Patrone der Demokratie. Merz äußert sich ähnlich. Haben sie recht?

Der damit verbundene Anspruch ist vernünftig. Solche Beschwörungen haben allerdings eine gewisse Ähnlichkeit mit den Ankündigungen der Grünen, diese oder jene sei die letzte Chance, die Klimakatastrophe zu vermeiden. Und nach der letzten Chance kommt dann die allerletzte Chance und danach noch eine. Ricarda Lang hat den Reputationsverlust der Grünen auf genau diese Art der Panikargumentation zurückgeführt.

Sehen Sie die Demokratie nicht in der Krise?

Es gibt Herausforderungen der Demokratie, von innen und von außen. Aber wenn ich mich unter der übersichtlichen Zahl der Demokratien weltweit umsehe, sehe ich keine stabilere als unsere.

Mit Norbert Lammert sprach Volker Petersen

Back to top button