Kultur

Auf Teneriffa gibt es einsame Ecken: das Anaga-Gebirge | ABC-Z

Der Vermieter des Motorrollers ist ein Spaßvogel. „Vorsicht vor den Hexen“, scherzt er und fügt hinzu: „Die sollen im Anaga-Gebirge noch immer ihr Unwesen treiben, das sagt die Legende!“ Er lacht. Dass man den Schlüssel des Rollers ruhig stecken lassen könne, erwähnt er nur nebenbei: „Da oben klaut keiner was! Gute Fahrt!“

Mit „da oben“ meint der nette Herr den Nordosten von Teneriffa, die Halbinsel nahe der Inselhauptstadt Santa Cruz. Eine einzige Straße, die TF-12, durchzieht den Naturpark mit Höhen bis zu 1024 Meter. Ab dem Mirador de Jardina gibt es kaum noch Bebauung, dafür reichlich alte Bäume und dichte, geradezu verwunschen wirkende Wälder sowie eben jene TF-12 und Wanderwege. Der Blick vom ersten Aussichtspunkt Jardina reicht über San Cristóbal de La Laguna, die Weltkulturerbestadt mit ihrer Kolonialarchitektur und ihren geradlinigen Straßen aus dem 15. Jahrhundert, bis zum Teide, mit gut 3700 Metern der höchste Berg der Insel. Man sieht auch, wie sich die Fähre vom Hafen von Santa Cruz nach La Gomera aufmacht.

Die Auswahl an Wanderwegen ist auf Teneriffa großGregor Lengler/Laif

Wir fahren die TF-12 im Uhrzeigersinn. Die 125 Kubikzentimeter Motorausstattung reichen völlig aus, sogar für den höchsten Punkt der Strecke, den Cruz del Carmen auf rund 900 Metern. Wo wir im Angesicht des Gipfelkreuzes aber niemanden nach den Hexen fragen können, denn es ist schlicht kein Mensch zugegen, keine Touristen, kein Ranger. Fast unglaublich, wenn man bedenkt, dass der Begriff Overtourism inzwischen zu Teneriffa gehört wie schon seit Jahrzehnten der Badeurlaub. Mit dem Unterschied, dass sich beides geographisch genau auf der anderen Seite der Insel, im Südwesten, abspielt. Dabei sind es vom Zentrum des Massentourismus, Los Cristianos, bis zur Punta de Anaga nicht einmal hundert Kilometer. Aber neun von zehn Teneriffa-Touristen haben vom Anaga-Gebirge noch nie etwas gehört, geschweige denn den abgelegenen Zipfel der Insel besucht.

Häufig formen die Äste der Bäume von beiden Seiten der Straße ein Dach, als fahre man durch einen Märchenwald aus Licht und Schatten. So auch auf dem Weg zum Mirador Pico del Inglés. Es ist ein mystischer Ort: Wir ziehen den Schlüssel vom Roller ab – sicher ist sicher – und spazieren durch einen Waldtunnel. Überall wachsen Farne, Flechten und Moose. Sogar Lianen und Efeu hängen von den Bäumen herab, und manchmal ziehen auch Nebelschwaden hindurch. Nicht nur dann ist der Blick aufs Meer unmöglich: Die Natur ist so dicht bewachsen, dass es kaum einmal eine Aussicht auf den weiten Atlantik gibt.

Zurück auf der TF-12 kommt uns ein Roller entgegen, das erste Fahrzeug seit rund einer Stunde. Wir halten, tauschen uns aus, von Frankfurtern zu Münchnern, als ob wir nicht auf Teneriffa, sondern auf irgendeiner abgelegenen Atlantikinsel sind und Begegnungen wahre Freude hervorrufen. „Das Schönste kommt noch“, sagt der Frankfurter, und bald weist ein kleines Hinweisschild den Weg zum Lorbeerwald Bosque de las Mercedes, den Hexenwald. Grüne Bartflechten hängen bis zu dreißig Zentimeter lang von den Ästen, ein Geflecht aus feinen Fäden wie in einem Zauberwald. Man befreit sich mit den Händen davon, als sei man in ein Spinnennetz geraten. Hier sollen sich also einst die Hexen getroffen haben. Abergläubige Menschen glauben in einer solchen Atmosphäre sofort daran. Sicher ist: Die Guanchen, die Ureinwohner der Insel, praktizierten ihre Riten an Orten, an denen sie natürliche Kräfte vermuteten, so auch im Anaga-Gebirge. Dabei soll es zu Opferungen gekommen sein, und es wurde um ein Feuer getanzt. Wahrscheinlich bezieht sich die Legende auf die Rituale, die die alten Guanchen durchführten, um Regen und Fruchtbarkeit von der Erde zu erbitten. Da sie Heiden waren, betrachtete die katholische Kirche das Ganze als Hexerei.

Der Nebelwald im Norden der Insel
Der Nebelwald im Norden der InselJulia Knop/Laif

Der Name El Bailadero lässt Rückschlüsse zu, dass sich dort die Hexen beziehungsweise Guanchen trafen und tanzten. Bailar heißt im Spanischen: tanzen. Wer durch den Lorbeerwald wandern möchte, etwa um die Felsformationen Roque Chinobre und Roque de Anambro, ein Heiligtum der Guanchen, sowie weitere Gipfel und tiefe Schluchten zu sehen, muss sich zuvor online eine kostenlose Genehmigung besorgen.

Der Aussichtspunkt El Bailadero liegt auf rund 700 Metern Höhe, und der Blick ist so ganz anders als zuvor. Er richtet sich auf den Atlantischen Ozean: erhaben, klar, weitreichend, als habe jemand einen grünen Vorhang weggezogen. Ähnlich großartig ist auch die Aussicht vom schönen Terrassencafé der „Albergue de Anaga“. „Unsere Gäste wollen die Hexen-Legende immer erzählt bekommen“, sagt Alfredo, der Herr der neun Zimmer und des Cafés. „Wir kommen dem Wunsch auch gerne nach: Bei uns gibt es ja keine großen Menschenmassen. Und wer uns hier oben sucht und findet, der mag auch keinen Massentourismus, sonst wäre er ja nicht bei uns.“ Zwei Tauben landen auf der weitläufigen Terrasse. „Das sind endemische Tauben. Sie haben den passenden Namen Lorbeertauben.“ Für zwanzig Euro pro Nacht und Person kann man in der „Albergue de Anaga“ Unterschlupf finden.

Seit vierzig Millionen Jahren

Schon vor zehn Jahren wurde das Anaga-Gebirge von der UNESCO zum Biosphärenreservat erklärt. Den Lorbeerwald gibt es schließlich schon seit vierzig Millionen Jahren. Auf einer Höhe von 500 bis 1000 Metern treffen die Passatwinde aufs Land. Die Wolken bleiben an den Bergen hängen und schaffen ein tropisch-feuchtes Klima und damit ideale Voraussetzungen für die bis zu dreißig Meter hohen Lorbeerbäume. Biosphärenreservat bedeutet aber auch immer ein duales System: Landschaftsschutz zum einen und die Nutzung des Bodens durch den Menschen zum anderen. Und so bauen die Bauern außerhalb der Lorbeerwälder Kartoffeln, Yams und Gemüse an oder halten Ziegen. Wobei die Ziegenhirten früher eine besondere Art der Fortbewegung nutzten: den Hirtensprung. Mithilfe eines langen Holzstabes mit Metallspitze überwanden sie mit gewaltigen Sprüngen unwegsames Gelände und sprangen sogar über Schluchten.

Die letzten zwölf der insgesamt knapp siebzig Kilometer langen Tour geht es in Schlangenlinien bergab nach San An­drés. Auch die Hexen sollen es so gemacht haben: Nach ihren Ritualen gingen sie hinunter an die Küste, um nackt im Meer zu baden. Tatsächlich heißt einer der Strände, die zu Anaga gehören, Playa de Las Brujas, Strand der Hexen.

Das satte Grün weicht einem Braunton, und auch der Verkehr nimmt stetig zu, je näher man dem Meer kommt, das verführerisch türkisblau lockt. Denn das Bonbon kommt zum Schluss: der Palmenstrand von Las Teresitas, 1,3 Kilometer lang und nur selten von Touristen, wohl aber von den Tinerfeños besucht. Ursprünglich bestand die Playa aus schwarzem Sand. „Aber die Leute aus Santa Cruz wollten das nicht. Die wollten hellen Sand“, erzählt die Kellnerin Maria vom „Bambú Beach Club“, der nördlichsten Strandbar in der sichelförmigen Bucht. Sie serviert zwei eiskalte Cola und sagt: „Also wurde auf den Vulkansand 1973 schöner heller Sand aus der Sahara aufgelegt: auf 1,3 Kilometer Länge und einer Breite von 80 Metern! Damit das kostbare Gut nicht weggeschwemmt wird, wurde ein kilometerlanger Wellenbrecher gebaut sowie zahlreiche Schatten spendende Kokos- und Fächerpalmen gepflanzt. Unglaublich, oder?“ Wie viel Sand per Schiff angeliefert wurde und was das gekostet hat, weiß kein Mensch. Aber Maria sagt: „Wir spinnen halt manchmal, wir Tinerfeños!“

Weitere Informationen unter: alberguestenerife.net.

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