Krim-Urlauber lassen sich von Krieg nicht abschrecken | ABC-Z
An einem Strand in Sewastopol werden fünf Menschen durch herabstürzende Raketenteile getötet. Luftangriffe und Frontnähe sind für viele Russen aber kein Grund, auf den Krim-Urlaub zu verzichten: Auf der besetzten Halbinsel ließe es sich “super” erholen, sagen sie in sozialen Netzwerken. Nur das noch kalte Schwarzmeer scheint ihre Unbekümmertheit etwas zu trüben.
Als brennende Raketentrümmer vom Himmel zu fallen begannen, war die neunjährige Sonja Awerjanowa gerade am Strand von Sewastopol auf der Krim – nur drei Kilometer vom russischen Luftwaffenstützpunkt Belbek entfernt. Am Sonntag griffen die ukrainischen Streitkräfte die seit 2014 annektierte Halbinsel mit Raketen an. Die russische Luftabwehr konnte diese zwar abschießen, doch tat sie das über dem Strand, der zur Mittagszeit und bei bestem Wetter voller Menschen war. Die Trümmerteile fielen ins Wasser und auf den Strand. Sie töteten fünf Menschen, darunter Sonja Awerjanowa.
Die Neunjährige war die Tochter des stellvertretenden Bürgermeisters von Magadan, einer Stadt am Ochotskischen Meer im Fernen Osten Russlands. Dass Oleg Awerjanow, ein kremltreuer Beamter, sich einen Familienurlaub auf der rund 11.000 Kilometer entfernten Halbinsel leisten kann, überrascht in Russland wohl niemanden. Viele fragen sich jedoch, warum ein Mann, der laut Medienberichten 18 Jahre lang beim Militär gedient hat und heute junge Leute aktiv für die Kriegsteilnahme rekrutiert, sich für einen Urlaub auf der Krim entschieden hat.
Erst im Mai wurden auf der Luftwaffenbasis Belbek mehrere Kampfjets zerstört oder beschädigt; die ukrainischen Streitkräfte greifen immer wieder Ziele auf der von Russen besetzten Halbinsel an – und Awerjanow hat das sehr wohl gewusst. Trotz der Gefahr fuhr er mit seiner Familie an einen Strand in unmittelbarer Nähe eines Militärobjekts. Mit fatalen Folgen.
Die Strände werden immer voller
Dabei sind die Awerjanows bei weitem nicht die einzigen, die sich trotz der Frontnähe und häufigen Luftangriffe für einen Krim-Urlaub entscheiden. Der Tourismus auf der besetzten Halbinsel boomt. Nach russischen Angaben haben seit Anfang dieses Jahres bereits mehr als 1,32 Millionen Urlauber die Halbinsel besucht – ein Anstieg von zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Hotels waren im Juni, bereits vor Beginn der Hochsaison, demnach zu 80 Prozent gebucht. Nach dem jüngsten Angriff, der bei vielen Russen für Bestürzung sorgte und vom Kreml als “Terroranschlag” bezeichnet wurde, brachen die Verkäufe von Reisen auf die Krim laut einem russischen Online-Reisemagazin kurzzeitig um 20 Prozent ein. Gleichzeitig “gibt es aber keinen Anstieg der Stornierungen, alles liegt im saisonalen Rahmen”, sagte ein Reiseveranstalter dem Portal “tourdom.ru”.
Kremlkritische Aktivisten auf der Krim vermuten laut einem Bericht des Nachrichtenportals “Krym-Realii”, dass die Behörden die Zahlen absichtlich übertreiben, um eine Illusion der Sicherheit und Normalität zu vermitteln und so mehr Touristen auf die annektierte Halbinsel zu locken. Doch selbst wenn das stimmt, zeigen Fotos und Videos in sozialen Medien: Die Strände auf der Krim sind alles andere als leer.
“Hier wird nichts bombardiert, hier ist alles in Ordnung”
Am Tag des jüngsten Angriffs veröffentlichte ein Blogger im russischen sozialen Netzwerk “Zen” ein Video, das den Strand Utschkujewka wenige Minuten vor dem Abschuss der ukrainischen Rakete zeigen soll. “Hier ist alles in Ordnung, alles ist ruhig”, sagt er, während zahlreiche Menschen im Bild zu sehen sind, die sich am Strand aufhalten. In den Nachrichten wird immer wieder behauptet, Sewastopol werde bombardiert, aber “hier wird nichts bombardiert, hier ist alles in Ordnung”, sagt der Mann. “Vielleicht wurde irgendwo weit weg, vor langer Zeit bombardiert, aber hier ist alles bestens.”
Auch ein Video eines anderen Bloggers zeigt volle Strände – diesmal in Jalta. “Urlauber haben KEINE Angst und fahren massenhaft auf die Krim” heißt der Clip, der auf dem russischen Facebook-Pendant vk.com Anfang der Woche gepostet und mehr als 60.000-mal angeschaut wurde. Die Bilder, die der Blogger zeigt, vermitteln eine Unbekümmertheit, mit der die Russen ihren Urlaub genießen. Menschen am Strand, die im Video interviewt werden, sind allesamt “begeistert” und finden ihren Urlaub in Jalta “super” und “ziemlich cool”. Günstige Preise, gutes Essen, lockere Stimmung und mildes Wetter finden die Urlauber auf der besetzten Halbinsel demnach “großartig”. Die einzigen negativen Aspekte, die die russischen Touristen thematisieren, sind die lange Anreise und das noch relativ kalte Wasser: “Erfrischend, aber baden kann man schon.”
Gewiss, ukrainische Angriffe mögen den einen oder den anderen Russen von einer Reise auf der Krim abschrecken. Dennoch gibt es genug Menschen, die Urlaub auf der besetzten Halbinsel für sicher und moralisch vertretbar halten. Eine Umfrage, die der Reiseportal “tourdom.ru” unter seinen Telegram-Followern durchführte, zeigt aber auch: Immerhin mehr als die Hälfte der Befragten die Krim für Kinderurlaub als momentan zu gefährlich halten. Sonja Awerjanowas Vater gehörte wohl zu der anderen Hälfte.