Konzertkritik: Rattle und die Labèques im Herkulessaal | ABC-Z
“Wer ist denn der mit dem Hut?”, fragt die Dame hinter dem Kritikersitz verblüfft und in gepflegtem Bayrisch. Es gibt für das Publikum noch mehr zu staunen: Auf der Bühne des Herkulessaals stehen links, wo sonst die Violinen sitzen, die Kontrabässe des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, im Vordergrund versammelt sich allerlei Schlagwerk um die zwei gegenübergestellten Flügel mit den farbenfroh gekleideten Schwestern Katia und Marielle Labèque an den Tasten – und inmitten dieser bunten Gesellschaft: Simon Rattle. Man ahnt es schon: Der Chefdirigent hat es wieder einmal geschafft, frischen Wind in den Konzertsaal zu bringen.
Gonzalo Grau und die bunten Labèque-Schwestern
“Der mit dem Hut” ist der Multi-Instrumentalist Gonzalo Grau, der dieses Spektakel arrangiert hat und auch als Perkussionist mitwirkt. Er hat aus der 2000 uraufgeführten “Markus-Passion” des argentinischen Komponisten Osvaldo Golijov die rein instrumentale Suite “Nazareno” zusammengestellt. Das Ganze changiert zwischen Minimal Music, Big Band und Cool Jazz, und einige lateinamerikanische Ohrwürmer gibt es obendrauf. An den glücklichen Gesichtern mancher Musiker und an einigen mitwippenden Köpfen im Publikum kann man sehen, dass das Happening Spaß macht. Da wollen wir nicht beckmessern, nur vielleicht leise anmerken, dass die Labèque-Schwestern für die Klavierparts eine äußerst luxuriöse Besetzung sind. Besonders ihre einsame Kunst des mikroskopisch genauen Zusammenspiels kommt hier nicht zur Geltung.
Jazz und klassisches Orchester
Geschickt hat Simon Rattle zwei weitere Werke ausgewählt, die Jazz und klassisches Orchester zusammenbringen. Beide haben gemeinsam, dass sie sich im Gegensatz zu der sechssätzigen “Nazareno”-Suite kurz fassen. In “Prelude, Fugue and Riffs” von Leonard Bernstein kostet der Chefdirigent nicht nur die Striptease-Musik lasziv aus, sondern lässt die verwegenen Blechbläser des BR-Symphonieorchesters mit ihren widerspenstigen Rhythmen scharf anecken.
Hier gibt es keine geschmeidige Routine, ja, im “Ebony Concerto” von Igor Strawinsky driften die Gruppen sogar bisweilen unmerklich auseinander, sodass Rattles orientierendes Taktschlagen mehr gefragt ist als sein Swing-Talent. Was ihm vielleicht sogar noch mehr liegt als der Orchesterjazz ist die nervöse Kleingliedrigkeit von “El sombrero de tres picos” von Manuel de Falla. Für das Ballett entwirft er zusammen mit dem vollbesetzten Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks – stolze sechs Kastagnetten-Spieler! – eine mediterran lichte und trockene Atmosphäre, die Mezzosopranistin Rinat Shaham gurrt hingebungsvoll dazu – und zu Beginn rufen alle “Ole!”. Mehr Wir-Gefühl geht nicht.
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