Zum achtzigsten Geburtstag des Künstlers Richard Long | ABC-Z

Der älteste Stadtplan Englands zeigt die Stadt Bristol und wurde 1478 von Robert Ricart gezeichnet, dem Urkundenbeamten der Stadtverwaltung. Lückenlos gedrängt stehen kleine Häuser entlang zweier breiter Straßen, die ein x-förmiges Kreuz bilden. Im Kreuzungspunkt der Straßen erhebt sich ein (weiteres) Kreuz in Form einer gotischen Spitze, das „hohe Kreuz“ (wie es von einer Inschrift auf der Karte bezeichnet wird) oder Marktkreuz, das die Marktrechte der Stadt markiert. Die vier Ecken der bildfüllenden Stadt bilden Tore mit Rundbögen unter Spitzdächern mit je zwei Seitentürmchen. Der untere Stadtrand deutet eine Kreisform an.
Nicht gezeigt, da den Bürgern selbstverständlich, wird die besondere Lage Bristols, der die Stadt ihren hier systematisch, abstrakt und konkret zugleich ins Bild gesetzten Wohlstand verdankt: an der Mündung des Flusses Avon, an der Südwestküste Englands gegenüber der Ostküste Irlands. Der deutsche Historiker Reinhart Koselleck, der als DAAD-Lektor an der Universität Bristol lehrte, veröffentlichte 1955 in der Zeitschrift „Soziale Welt“ einen Aufriss der Sozialgeschichte Bristols, der mit den geographischen Gegebenheiten einsetzt. Durch zwei Flüsse und einen Wassergraben geschützt, war Bristol innerhalb Englands „praktisch eine Inselfestung“ und nach außen „das Tor zum Westen“. Die Stadt „lebte von der See und von den Ufern, die durch die See getrennt und verbunden sind“. Von Bristol aus stach 1496 John Cabot in See, der ein Jahr später als erster Europäer das nordamerikanische Festland betrat.
Erdkunde als Geheimwissenschaft
Die Geographie, wie sie die in Bristol förmlich als Abenteurer („adventurers“) inkorporierten Kaufleute studierten, nennt Koselleck eine „Geheimwissenschaft“. Das ist paradox gesagt, ist der Gegenstand der Erdkunde doch das, was vor aller Augen liegt. Aber die Strömungen des Meeres und die Wanderwege der Fische sind der Oberfläche des Wassers nicht abzulesen, sondern müssen erkundet werden. Und auch auf dem Festland sind alle zielführenden Wege einmal ungebahnt gewesen.
Als Wegbereiter der Kolonisierung Amerikas wurden die Fernhandelsherren von Bristol laut Koselleck „vollends zu kühnen Einzelgängern“. Ein solcher kühner Einzelgänger ist der Künstler Richard Long, der am 2. Juni 1945 in Bristol geboren wurde und bis heute in Bristol und von Bristol aus arbeitet. Von der Industrialisierung, in deren Zuge Bristol den Rang der zweiten Stadt Englands verlor, ist seine Arbeitsweise unberührt. Seine Werkzeuge sind seine Füße und seine Hände. Dass er Künstler werden könnte, kam ihm in der Schule in den Sinn, als er seine Zeichenversuche betrachtete und sich in jugendlichem Übermut einbildete, Michelangelo sei nichts dagegen. Es ist einer der berühmtesten Bildhauer unserer Zeit aus ihm geworden, aber er lässt den Stein unbearbeitet.
Long beschränkt sich darauf, Steine aufzuheben und wieder abzulegen, sie an Ort und Stelle zu einem Kreis oder einer Reihe zusammenzusetzen, idealerweise dort, wo er sie gefunden hat, oder auch im Museum, weil wir Betrachter ihm nicht überallhin mit den Füßen folgen können, wohl aber mit den Augen. Seine Werke sind ortsspezifisch im Sinne von erdtypisch. Sie entstehen im Gehen und sind selbst vorübergehend, wie alle menschlichen Schöpfungen. Long durchquert seine englische Heimat oder fremde Länder, legt Pfade oder folgt Spuren, ohne Schneisen zu schlagen. Die fotografische Dokumentation seiner Aktionen lässt uns darüber rätseln, ob die feinen Linien aus eingedrücktem Gras schon vorher dagewesen sind oder nicht. Er schlägt unsichtbare Brücken von Ufer zu Ufer und hilft manchmal der Natur beim Unterhalt ihres Wegenetzes symbolisch nach, wenn er etwa dem vor seiner Haustür fließenden Avon Wasser entnimmt und es in den Nachbarfluss gießt und diese Prozedur so oft wiederholt, bis er am anderen Ende der englischen Welt angekommen ist.
Longs Linien verbinden, was Schmitts Linien trennten
Long wiederholt die Entdeckungsreisen seiner unternehmerischen Vorfahren, nur ohne kommerzielles Interesse und ohne politische Hintergedanken, sodass diesmal die zivilisatorischen Kosten nicht anfallen. Von seinen Expeditionen bringt er keine Beute mit außer Erinnerungen und Bildern. Die Steinkreise, die er an der irischen Küste oder im Hochland der Anden hinterlässt, sind keine Außenposten einer neuen Kolonisierung, keine verkleinerten Abbilder der Urstadt Bristol mit dem Zweck der Expansion ihres Geschäftsmodells, auch wenn sie ein Beispiel planmäßiger Nutzung natürlicher Gegebenheiten bieten.

An Mauerringe lassen diese Strukturen nicht denken. Den Wanderer, der zufällig auf sie stößt, sollen sie nicht erschrecken und einschüchtern, sondern verblüffen und erfreuen mit ihrer beiläufigen Schönheit. Carl Schmitt, der Lehrer Kosellecks, war besessen von der Idee, dass sich die Welt durch unsichtbare Linien ordnen lasse, wie sie Papst Alexander VI. zog, um die kolonialen Herrschaftssphären Spaniens und Portugals abzugrenzen. Longs Linien verbinden, was Schmitts Linien trennen.
Der aus Dublin gebürtige philosophische Staatsmann Edmund Burke repräsentierte von 1774 bis 1780 den Wahlkreis Bristol im englischen Unterhaus. Er unterhielt eine intensive Kommunikation mit seinen Wählern und warb bei ihnen für die Prinzipien des freien Flusses von Waren und Gedanken. Über England und Irland schrieb er ihnen 1778: „Die Welt ist groß genug für uns beide. Wir sollten darauf Acht geben, dass wir uns nicht zu klein für sie machen.“ Die Welt ist groß genug: Richard Long, der heute seinen achtzigsten Geburtstag feiert, kartographiert die Erde in diesem Geist, im Maßstab eins zu eins, mit dem Effekt, dass die allergrößten Teile noch unberührt scheinen.