Könnte sie nicht der nächste James Bond sein? | ABC-Z
In die neue Netflix-Serie „Black Doves“ wird man gleich zu Beginn nicht nur durch die grundsympathischen Gesichter von Keira Knightley und Andrew Buchan, sondern auch durch die ausladende englische Weihnachtsdeko und eine gekonnte Auswahl von Christmas-Songs (Pogues, Shakin’ Stevens, Sinatra) dermaßen hineingesogen, dass man schon nach fünf Minuten versucht, herauszugoogeln, ob beim Drehbuch vielleicht eine Künstliche Intelligenz am Werk war. Da im Netz keine Spuren zu finden sind, kommt der Gedanke auf, ob Drehbuchautoren heute vielleicht schon von sich aus so schreiben wie eine KI, weil die Frage, was diese wohl in der jeweiligen Situation täte – im Grunde: das Naheliegendste –, für alle immer vertrauter wird.
Je mehr Personen in der ersten Folge auftreten – skurrile Klein- und Großkriminelle mit unterschiedlichen englischen Akzenten sowie Sarah Lancashire als Spionagechefin im Stil von Ian Flemings „M“ –, desto mehr erinnert „Black Doves“ an eine Mischung aus Guy-Ritchie-Film, vor allem dessen Serie „The Gentlemen“, und „James Bond“. Keira Knightley ruft mit ihrer druckreifen Sprache bereits nach den ersten geschmeidigen Nahkämpfen die Assoziation hervor: Eigentlich wäre sie der perfekte Nachfolger von Daniel Craig. Wer immer die erste Folge geschrieben hat, es gibt in ihr keinen einzigen Hänger, man könnte von perfekter Unterhaltung sprechen, auch wenn so etwas heutzutage ein Dutzend Leben kostet. Zur guten Laune der deutschen Zuschauer mag beitragen, dass fast nur heimische Karossen auf dem Bildschirm zu sehen sind, allerdings sind sie deutlich lauter als E-Autos.
Der Unterhaltungsfaktor ist umso erstaunlicher, als der Inhalt der Serie so verworren ist, dass er sich kaum nacherzählen lässt, er stammt also wohl nicht von einer KI. Wir wollen es trotzdem versuchen: Drei Menschen, die mit der Tochter des ermordeten chinesischen Botschafters in London befreundet sind, werden umgebracht, darunter der Geliebte von Helen Webb, der Frau des englischen Verteidigungsministers, gespielt von Keira Knightley. Da diese zugleich einer geheimen privaten Spionageorganisation angehört und in allen möglichen Techniken der Selbstverteidigung und des Leute-Ausschaltens bewandert ist, schwört sie tätige Rache. Das ruft die Leiterin ihrer Spionageorganisation – jenes „M“-Pendant namens „Reed“ – auf den Plan. Sie sieht ihre beste Kraft in Gefahr und stellt ihr einen Helfer zur Seite, der früher ihr Ausbilder war: Sam Young, gespielt von Ben Whishaw.
Killer-Maschine mit großen Gefühlen
Die Logiklöcher häufen sich in den nächsten Folgen. Am Ende weiß man nicht mehr, wer den Schlamassel in Gang gesetzt hat: die Chinesen, die CIA, der MI 5 oder 6, die „Black Doves“ oder die Clarks, eine Oberschurkenfamilie, die allerdings ihren Zenit überschritten hat. Irgendwann klingelt mal ein Ermittler bei den Webbs, der schließt aber schnell wieder die Tür hinter sich, weil alles so absurd verworren ist. Was ist nur aus der Institution des unnachgiebigen englischen Fernseh-Detective geworden?
Zusammengehalten wird das Spektakel von Knightley und Whishaw. Knightley, die auch als „executive producer“ der Serie firmiert und für einen Golden Globe nominiert wurde, verbindet ihr legendäres mädchenhaftes Lächeln inzwischen mit einem tiefen Blick, der an Rachel Weisz erinnert. Ben Whishaw zeichnet als Killer-Maschine mit großen Gefühlen fast schon eine Charakterstudie. Sein Spiel ist, auch wenn er zuweilen dick aufträgt, grandios – allein wie er immer wieder geht und steht und wie einfühlsam seine Sprachmelodie ist, der jede Aggression fehlt!
Es geht in „Black Doves“ nicht um Spannung. Was die Serie bemerkenswert macht, ist vielmehr ein Lebensgefühl, das in der totalen Überforderung des modernen Menschen besteht, der zwar weit gekommen ist in seiner Abhärtung und fast wie ein Roboter handelt, aber eben nur fast. Am meisten bleibt eine Szene mit Ben Whishaw in der vorletzten Folge im Gedächtnis, in der er nach einem ereignisreichen Tag, von mehreren Seiten überwacht und verraten, aufgerieben von Bandenkrieg, Beziehungsproblemen und Schuldgefühlen – sein Geliebter und dessen Tochter sind in Gefahr, und er kann es ihnen nicht sagen –, in einer Vorortwohnung ganz klein auf dem Rand einer Badewanne sitzt und versonnen eine Selbstgedrehte raucht. Und dann kommt Helen Webb herein und macht alles noch schlimmer.
Wie immer der Serie ein tatsächlicher oder eingebildeter Netflix-Algorithmus geholfen hat, ihr Kalkül geht auf. Seit Tagen ist „Black Doves“ bei Netflix Deutschland auf Platz eins. Was auch damit zu tun haben mag, dass es ein Happy End gibt, bei dem Liebe, Freundschaft und Loyalität ihren Auftritt haben. Und der Zuschauer kann sich sagen: Wenn es Helen und Sam schaffen, noch rechtzeitig einen Weihnachtspudding auf den Tisch zu bringen, schafft es jeder – und es besteht Hoffnung.
Aber was ist heutzutage schon ein Happy End wert? Im Serienfernsehen geht es immer weiter mit den Verwicklungen. Die zweite Staffel von „Black Doves“ ist angekündigt, dann wird Helen Webb wohl die Gattin des englischen Premiers sein. Der tragikomische Anti-Weihnachts-Ohrwurm „Fairytale of New York“ der Pogues, mit dem die Serie beginnt, gibt den passenden Schlussakkord.