Konfliktexperte verrät: Wenn das Entsetzen Alltag wird – Warum uns Amokläufe erschüttern und faszinieren | ABC-Z

Amokläufe und Attentate erschüttern unser Sicherheitsgefühl wie kaum etwas anderes. Doch sind sie wirklich unvorhersehbar? Und was können wir tun, bevor aus stillem Zorn tödliche Gewalt wird? Ein Beitrag des Konfliktexperten Christoph Maria Michalski über Ursachen, Abgründe – und echte Prävention.
Plötzlich fallen Schüsse. In einer Schule, einem Einkaufszentrum, einem Gotteshaus. Menschen rennen, schreien, sterben – und ganz Deutschland hält für einen Moment den Atem an. Wieder ein Amoklauf. Wieder diese lähmende Mischung aus Fassungslosigkeit, Angst und Wut.
Über Christoph Maria Michalski
Christoph Maria Michalski ist „Der Konfliktnavigator“ – renommierter Streitexperte, Autor des neuen Buches „Streiten mit System – Wie du lernst, Konflikte zu lieben“ und gefragter Redner. Seine praxiserprobten Methoden helfen Führungskräften und Teams, auch knifflige Situationen souverän zu meistern. Mit einem ungewöhnlichen Dreiklang aus Musikpädagoge, Erwachsenenbildner und IT-Profi bringt er Verstand, Gefühl und System in Einklang. Sein Versprechen: weniger Stress, mehr Erfolg, mehr Leichtigkeit. Privat ist er Zauberer, Marathonläufer und Motorradfan – ein lebendiger Beweis dafür, dass Energie und Kreativität keine Gegensätze sind.
Gab es solche Taten schon immer – oder ist das ein neues Phänomen?
Die kalte Wahrheit vorweg: Gewalt ist kein Kind unserer Zeit. Schon in antiken Texten finden sich Berichte über Einzelne, die – aus Rache, Wahn oder Geltungsdrang – grausame Taten verübten.
Doch die Schlagkraft heutiger Attentate ist eine andere. Sie trifft uns medial verdichtet, global vernetzt, live im Liveticker. Wo früher Wochen zwischen Tat und Nachricht lagen, reichen heute Sekunden. Der Täter in Hamburg, die Schüsse in Prag, das Blutbad in einer amerikanischen Grundschule – wir alle sehen, lesen, hören es in Echtzeit. Und so wird aus dem Einzelfall ein gefühlter Dauerzustand.
Warum erschüttern uns solche Taten so sehr – trotz der Häufigkeit?
Weil sie das Grundvertrauen angreifen, auf dem unser Alltag ruht: Dass wir morgens zur Schule, zur Arbeit oder in die Kirche gehen können, ohne erschossen zu werden. Amokläufe sind die ultimative Verletzung unseres Sicherheitsgefühls. Sie sind nicht „nur“ Gewalt – sie sind Chaos ohne Sinn.
Und genau das macht sie so schwer zu ertragen. Kein Krieg, keine politische Agenda, kein Streit: Nur pure, oft planlose Vernichtung. Diese Entkopplung von Ursache und Wirkung, Täter und Opfer, erschüttert unsere Vorstellung von Kontrolle – und trifft damit ins emotionale Mark.
Warum interessieren – ja, faszinieren – uns diese Taten trotzdem?
Ein Tabu, das ausgesprochen werden muss: Ja, es gibt eine gewisse Faszination. Nicht im Sinne von Bewunderung, sondern im Sinne eines Schreckens, der fesselt. Wie bei einem Autounfall, bei dem man nicht wegsehen kann. Die Mischung aus Ohnmacht, Grauen und der bohrenden Frage: Wie konnte es so weit kommen? Genau das macht Amokläufe zu einem Stoff, den Medien endlos drehen – und der in True-Crime-Formaten millionenfach Klicks generiert. Dahinter steckt das uralte menschliche Bedürfnis, das Unfassbare fassbar zu machen.
Was treibt Menschen zu solchen Taten?
Hier gibt es keine einfache Antwort, sondern ein Netz aus Faktoren. Psychische Erkrankungen, soziale Isolation, narzisstische Kränkungen, Hassideologien – oft ist es eine toxische Mischung. Was viele Täter eint: das Gefühl, übersehen, entwertet oder entmachtet zu sein. Der Amoklauf wird dann zur fatalen, verdrehten Selbstermächtigung.
Wer sich selbst nicht spürt, will von anderen gespürt werden – zur Not durch Gewalt. Einige Täter hinterlassen Manifeste, Botschaften, Videos. Sie wollen nicht anonym sterben – sie wollen ein letzter Paukenschlag sein. Eine makabere Form von „Ich war da“.
Was können wir dagegen tun – präventiv, konkret, gemeinsam?
Dies ist der wichtigste Abschnitt – denn hier liegt unser Handlungsspielraum:
- In der Gesellschaft: Wir müssen aufhören, „den Täter“ als Alien zu betrachten. Er ist kein Monster aus einem Horrorfilm. Er ist oft der stille Junge in der Klasse, der Kollege am Rand, der Nachbar mit den leeren Augen. Frühwarnsysteme wie anonyme Meldestellen, interdisziplinäre Gefährdungsteams (wie in manchen Bundesländern bereits erprobt) und bessere Schnittstellen zwischen Schule, Polizei und Psychiatrie müssen flächendeckend Standard werden.
- In der Familie: Eltern brauchen Enttabuisierung statt Schuldgefühle. Niemand muss psychische Probleme oder Radikalisierungstendenzen im Alleingang bewältigen. Es braucht niedrigschwellige, vertrauenswürdige Beratungsangebote – und mehr Schulung für Erziehende, um Warnsignale früh zu erkennen: Rückzug, Gewaltfantasien, plötzlicher Waffeninteresse oder Weltverachtung sind keine Pubertätsfolklore, sondern rote Flaggen.
- Im sozialen Umfeld: Wir alle haben einen Hebel. Zuhören, Fragen stellen, nicht bagatellisieren. Mobbing ansprechen statt weggucken. Einsame einladen statt ausgrenzen. Die alte Regel gilt: Wer gesehen wird, muss nicht laut um Aufmerksamkeit schreien. Wer verstanden wird, muss nicht zuschlagen, um sich Ausdruck zu verschaffen. Empathie ist keine Kuschelmaßnahme, sondern aktive Sicherheitsvorsorge.
Was bleibt – und was tun?
Amokläufe sind keine Naturgewalt. Sie fallen nicht vom Himmel. Sie sind Extrem-Ausdruck gesellschaftlicher und individueller Spannungen. Es wäre zynisch, zu glauben, man könne sie ganz verhindern – aber es wäre fahrlässig, es nicht zu versuchen.
Prävention ist unbequem, teuer, langwierig – aber alternativlos. Sie beginnt nicht beim Täter, sondern beim Umfeld. Nicht mit Überwachung, sondern mit Beziehung. Nicht mit Panik, sondern mit Haltung.
Denn der beste Schutz gegen das Unfassbare ist: Es früher fassbar zu machen.
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“Streiten mit System: Wie du lernst, Konflikte zu lieben” von Christoph Maria Michalski
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.