Was Zurückweisungen an der Grenze wirklich bringen | ABC-Z

Wenn es in den vergangenen Monaten in Deutschland um Migration und Asyl ging, drehte sich die Diskussion häufig um eine bestimmte Maßnahme: Zurückweisungen an den deutschen Grenzen. Wer in Deutschland keinen Anspruch auf ein Asylverfahren habe, solle gar nicht erst einreisen dürfen, lautete die Forderung vieler Politiker, nicht nur aus der Union.
Nach der Dublin-Verordnung ist in der Regel derjenige EU- oder Schengen-Staat für das Asylverfahren zuständig, in dem ein Asylbewerber erstmals europäischen Boden betritt. Und da Deutschland keine Schengen-Außengrenze hat, so die Argumentation, müssten die allermeisten Asylbewerber zunächst durch andere Staaten des Schengenraums gereist sein, bevor sie an der deutschen Grenze ankommen – weshalb Deutschland nicht zuständig sei. In der Diskussion entstand dabei bisweilen der Eindruck, durch Zurückweisungen an der deutschen Grenze könnte man die Zahl der Asylanträge praktisch auf null senken.
Doch dieser Eindruck trügt. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland etwa 330.000 Asylerstanträge gestellt. Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken-Gruppe im Bundestag hervorgeht, stammte mehr als ein Fünftel dieser Asylanträge von Personen, die legal nach Deutschland eingereist waren – und folglich nicht an der deutschen Grenze hätten zurückgewiesen werden können. Insgesamt traf das demnach auf etwa 67.100 Menschen zu.
Etwa 40 Prozent von ihnen konnten visafrei einreisen, weil sie aus Ländern wie Kolumbien oder Venezuela kommen, deren Staatsbürger von der Visumpflicht befreit sind. Die anderen gut 60 Prozent reisten mit einem Visum ein; sie werden in der Statistik als VIS-Treffer bezeichnet. VIS ist die Abkürzung für das europäische Visainformationssystem, das die Staaten des Schengenraums zum Datenaustausch nutzen.
Kompliziertes Dublin-Verfahren
Nun ist Deutschland nicht für jeden Asylantrag zuständig, der einen VIS-Treffer aufweist. Für den Asylantrag ist grundsätzlich der Staat verantwortlich, der das Visum ausgestellt hat. Reist ein Migrant etwa mit einem von Frankreich ausgestellten Schengen-Visum nach Deutschland und beantragt hier Asyl, ist Frankreich prinzipiell für das Asylverfahren zuständig; allerdings gibt es von dieser Regel Ausnahmen, etwa bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.
2023 kam etwa die Hälfte der gut 41.000 mit Visum eingereisten Asylbewerber mit einer von Deutschland ausgestellten Einreiseerlaubnis; für diese Verfahren ist grundsätzlich die Bundesrepublik zuständig.
Darüber hinaus waren im vergangenen Jahr 22.600 Personen (sieben Prozent), die erstmalig in der Bundesrepublik Asyl beantragten, in Deutschland geborene Kinder von Asylbewerbern. Sie haben nie eine deutsche Grenze passiert. Zählt man die Asylanträge dieser nachgeborenen Kinder und der mit Visum oder visafrei eingereisten Asylbewerber zusammen, kommt man auf knapp 90.000 Anträge im vergangenen Jahr – mehr als ein Viertel aller Erstanträge auf Asyl. An dieser Zahl hätten Zurückweisungen nichts geändert.
Wie sie sich auf die Zahl der übrigen Asylanträge ausgewirkt hätten, ist unklar. Denn die Ermittlung des für das Asylverfahren zuständigen Staates ist komplizierter, als es in der öffentlichen Debatte teilweise erscheint. Greifen Polizeibeamte Asylbewerber auf, können sie nicht mal eben schnell nachschauen, welches Land für das Asylverfahren zuständig ist, und die Menschen dorthin zurückschicken. Das liegt unter anderem an der Komplexität des Dublin-Systems. Um zu ermitteln, welches Land für ein Asylverfahren zuständig ist, ist die Schengen-weite Datenbank Eurodac zentral.
Sobald ein Migrant europäisches Territorium erreicht, soll er mit seinem Fingerabdruck in Eurodac registriert werden. Reist er nun innerhalb des Schengenraums weiter und stellt etwa in Deutschland einen Asylantrag, können deutsche Behörden in der Datenbank sehen, in welches Land der Asylbewerber zuerst eingereist war.
Grundsätzlich ist dieses Land für das Asylverfahren zuständig. Jedoch gibt es diverse Ausnahmen; so spielt es etwa eine Rolle, ob ein Asylbewerber in einem EU-Staat Familienangehörige hat. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Asylbewerber in Deutschland gar nicht in Eurodac registriert ist.
Viele Anträge ohne Eurodac-Treffer
Im vergangenen Jahr konnte nur jedem vierten Asylantrag ein Eurodac-Treffer zugeordnet werden. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe, die häufig nichts damit zu tun haben, dass manche Flüchtlinge oder Staaten die Registrierung in Eurodac aktiv vermeiden oder umgehen. Mehr als ein Viertel aller Asylerstanträge, die im vergangenen Jahr in Deutschland gestellt wurden, betraf Kinder unter 14 Jahren. Sie werden generell nicht in der Eurodac-Datenbank registriert.
Die meisten Kinder reisen nicht allein, sondern im Familienverbund. Dies wird beim Asylgesuch entsprechend notiert. Wird etwa eine Familie mit zwei Kindern unter 14 in Griechenland aufgegriffen, werden die Eltern in Eurodac registriert, die Kinder aber nicht. Die Behörden vermerken jedoch, dass der Reiseverbund aus Eltern und zwei Kindern besteht.
Reist die Familie nach Deutschland weiter und beantragt hier Asyl, weisen die Eltern Eurodac-Treffer auf, die Kinder jedoch nicht, da ihre Fingerabdrücke nicht in der Datenbank hinterlegt sind. In diesem Beispiel würde die Bundesrepublik ein Übernahmeersuchen an Griechenland stellen, die gesamte Familie zurückzunehmen und ihr Asylverfahren durchzuführen.
Wie alle Prüfungen in diesem Zusammenhang braucht das Zeit. Das gilt auch für die Ermittlung des zuständigen Staates, wenn bei Asylbewerbern, die 14 Jahre oder älter sind, kein Eurodac-Treffer vorliegt. Auch in diesen Fällen ist nicht immer die Bundesrepublik für das Asylverfahren zuständig. Doch welches Land verantwortlich ist, muss anhand anderer Indizien festgestellt werden, die Rückschlüsse auf die jeweilige Reiseroute zulassen: Aussagen des Asylbewerbers in der Anhörung etwa oder Bus- oder Bahnfahrkarten.
Ob es sich um Kinder unter 14 handelt, um Migranten mit Eurodac-Treffer oder um solche, die noch nicht registriert worden sind – zu ermitteln, welcher Staat für das Asylverfahren zuständig ist, braucht Zeit. Währenddessen ist Deutschland für die Asylbewerber zuständig. Polizeibeamte können Asylbewerber ohne Einreiseerlaubnis nach Rechtsauffassung der Bundesregierung nur dann an der Grenze direkt zurückweisen, wenn sie wissen, aus welchem Land jene unmittelbar eingereist sind.
Dafür müssten sie die Grenzen flächendeckend kontrollieren, denn sobald ein Migrant etwa über die grüne Grenze deutsches Staatsgebiet erreicht und hier ein Asylgesuch äußert, muss die Bundesrepublik prüfen, welches Land für das Asylverfahren zuständig ist.
Die Forderung, die Asylanträge auf 100.000 je Jahr zu begrenzen – wie etwa jüngst von der CSU erhoben –, wäre im vergangenen Jahr zumindest mit Zurückweisungen nicht zu erreichen gewesen. 2023 wies die Bundespolizei insgesamt 35.618 Personen an den deutschen Grenzen zurück.