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Kolumne von Marie von den Benken: Charakter-Phänomen oder beleidigte Leberwurst – was treibt Carsten Linnemann an? | ABC-Z

Eigentlich wollte Carsten Linnemann Minister für Wirtschaft und Arbeit werden, jetzt bleibt er CDU-Generalsekretär. Es ist bereits die zweite unverhoffte Delle in Linnemanns ansonsten makelloser und rostfreier Erfolgskarosserie.

Der Hunger nach Macht ist häufig unstillbar, Heilkost dagegen jedoch kaum verfügbar. Auch Fasten gilt zumeist als unüberwindbare Hürde, und selbst Sterneköche können die Gelüste nach regentschaftlichem Prestige erfahrungsgemäß nur unzureichend saturieren. Insbesondere nach Wahlen mit Umbruchcharakter küsst die politikromantische Sehnsucht nach Obrigkeitszugehörigkeit so manche schlummernde Allmachts-Neurose wach. Kein metaphysisches Phänomen also, dass sich die Führungsriegen von CDU/CSU und SPD aktuell im kollektiven Aufwach-Raum für reputationssuchende Frischlinge im Epizentrum der Befehlsgewalt befinden.

Das Streben nach Einfluss ist im Politikbetrieb tief verwurzelt. Das ist unproblematisch. Wer Profifußballer wird, muss sich ja auch nicht rechtfertigen, wenn sein Ziel Nationalmannschaft heißt. Und im Regierungsviertel? Wer eine Karriere auf politischem Parkett beginnt, darf groß denken. Warum nicht Minister? Selbst die turbokapitalistische Anti-Wärmepumpen-Spaßpartei FDP konnte regelmäßig wichtige Ministerämter mit ihrem Personal bestücken. Gut, in der kommenden Legislaturperiode bestücken sie höchstens den Souvenirshop, aber das ist ja nicht die Schuld der FDP. Das liegt daran, dass Deutsche aus unerfindlichen Gründen einem naturverbundenen Kinderbuchautor (Habeck) und einer Trampolin-Expertin aus dem Völkerrecht (Baerbock) mehr Vertrauen schenken als einem renommierten Firmen-Pleitier (Lindner) und einem erfahrenen Altinternationalen (Kubicki). Für mich einer der problematischsten Skandale seit der Hand Gottes (Maradona) und dem Album “Abenteuerland” der Band Pur.

Linnemann geht All Out

Ganz Polit-Deutschland bringt sich dieser Tage also für Ministerämter und andere renommeewirksame Posten in Stellung. Jedenfalls, sofern sie über Parteibücher von CDU, CSU oder SPD verfügen. Ganz Polit-Deutschland? Nein! Ein von unbeugsamer Christdemokratie beseelter Carsten Linnemann hört nicht auf, dem Posten-Roulette Widerstand zu leisten. Linnemann war von Friedrich Merz 2023 als CDU-Generalsekretär installiert worden und leitete als solcher die Koalitionsverhandlungen maßgeblich mit. Dass er am Ende mit einem Ministerium belohnt würde, schien eindeutiger als die Russlandtreue von Sahra Wagenknecht und die Liebe von Thomas Gottschalk zu fremden weiblichen Promibeinen zusammen.

Nun kommt alles anders. Linnemann ist auf Machthunger-Diät. Statt sich am “All You Can Eat”-Buffet der Bedeutsamkeit satt zu essen, verkündete er überraschend, er stehe für Regierungsämter nicht zur Verfügung und bleibe Generalsekretär. Eine Entscheidung, so überraschend wie die Vokabel “Generalsekretär”. Immerhin hat ein General den ranghöchsten Dienstgrad inne, während ein Sekretär maximal Telefonanrufe für andere entgegennehmen darf. Oder, wenn es ganz schlecht läuft, ein Schreibtisch ist. General klingt nach den Champs Élysées der Macht, Sekretär eher nach Feldweg für Kaffeekocher. Im Zusammenhang mit Kontrolldefinitionswörtern ist die deutsche Sprache aber ohnehin komplex. Ein Autoschlüssel beispielsweise schließt üblicherweise Autos auf, ein Generalschlüssel dagegen … aber naja, anderes Thema.

Who the f**k is Carsten Linnemann?

Den Generalschlüssel der neuen Regierungskoalition will Carsten Linnemann demzufolge nicht. Was ist also passiert zwischen Bundestagswahl und Unterschrift unter dem Koalitionsvertrag? Um eine Theorie zu entwickeln, warum Linnemann plötzlich die Futtertröge der Machteliten verschmäht, die bestandsrealistischer ist als die Theorie, Deutschland würde seine Bevölkerung per Chemtrails zwangsimpfen, muss man sich den Paderborner Unionisten etwas genauer ansehen. Sein Verzicht scheint nämlich auf den ersten Blick so schlüssig, wie von Ferrari einen Platz im Formel-1-Cockpit angeboten zu bekommen, dann aber lieber weiter die Touristen-Bimmelbahn in Playa de Palma fahren zu wollen, die Betrunkene, Rentner und Großfamilien zwischen Ballermann 1 und Ballermann 15 hin und her kutschiert.

Also: Wer ist Carsten Linnemann? Der machtphilosophisch verhaltensauffällige Ministeriumsverweigerer stammt aus einer Paderborner Buchhändlerfamilie und wurde mit ostwestfälischer Dynamik, dem Spirit ruhrpottnaher CDU-Unterbezirke und dem SC Paderborn sozialisiert. Die größte Sehenswürdigkeit Paderborns, jetzt mal von Carsten Linnemann abgesehen, ist das Drei-Hasen-Fenster im Dom. Seine Berühmtheit erlangte es über die Grenzen der Heimatstadt von Judith Rakers (dem Friedrich Merz der “Tagesschau”) hinaus vor allem aufgrund der Anomalie, gar nichts mit drei “Playboy”-Playmates zu tun zu haben, die durch Scheiben gucken.

Linnemann mach hinne, Mann

In diesem Milieu wuchs Linnemann auf und kämpfte sich aus der Buchhandlung seiner Eltern über den heimischen Kreisverband der Jungen Union bis in den Bundestag hoch, wo die Ernennung zum Minister der nächste logische Schritt gewesen wäre. Sein Abwinken kommt daher unerwartet, könnte aber weniger charakterglorifizierende Hintergründe haben, als das Narrativ der merzkritischen Antiwokisten zu skizzieren versucht. Beim Flügel innerhalb der Union, der links von Friedrich Merz nur noch haarscharf Dietmar Bartsch sieht, gilt Linnemann als solider Werte-Junkie und Linksrutsch-Antagonist. Es gibt Hinweise, dass es zwischen Linnemann und Merz in den letzten Tagen einige Spannungen gab. Sowohl Merz’ formschöne 180-Grad-Wende beim Schuldenbremsen-Dilemma als auch die Freigiebigkeit beim Austeilen von Ministeriums-Geschenken an die SPD sollen Linnemann zu internen Revisionsgesprächen mit Merz getrieben haben.

Linnemann steht mit der Meinung nicht allein, Merz habe sich für seinen Lebenstraum Kanzler von SPD-Kapitän Lars Klingbeil am Koalitionsverhandlungstisch amateurhafter ausdribbeln lassen als Oliver Pocher von Amira Aly. Ist Linnemann also der konservative Werte-Avenger, der sich nicht nach links verbiegen lässt, selbst wenn er dafür seine eigene Bundesministerkarriere opfern muss – oder rührt Linnemanns Kabinettsmüdigkeit möglicherweise doch von etwas anderem her? Immerhin soll der Arbeits- und Sozialexperte das gleichnamige Ministerium auf seiner Wunschliste gehabt haben. Das jedoch hat Kanzleramt-Mietfavorit Merz nun aber der SPD zugeteilt.

Lars hat Friedrich über das Klingbeil springen lassen

Leidet Linnemann also womöglich doch nicht an heroischer Habeck-Allergie, sondern vielmehr an gekränktem Ego? Das für ihn verbliebene Resterampen-Ministerium für Wirtschaft hat kaum noch Relevanz und wird daher vermutlich nun dem Darth Vader der Maskendeals, Jens Spahn, zugeteilt. Das alles passiert nur, weil Neu-Willy-Brandt Lars Klingbeil seine Blätter am Pokertisch der Macht optimal ausreizen und im Windschatten von Merz’ Kanzler-Besessenheit am Ende sieben Ministerien für die Sozialdemokratie sichern konnte. Trotz des mit 16,4 Prozent beschämenden SPD-Minusrekordes an den Wahlurnen. Mal zur Einordnung: Wahlgewinner CDU wird sechs Ministerien bekleiden, die CSU drei. Schlechter verhandelt als Merz hat in jüngster Vergangenheit eigentlich nur noch Donald Trump. Denn dem wurde bei seiner Scheidung vom letzten Funken gesunden Menschenverstandes offenbar das Sorgerecht für Elon Musk untergejubelt. Wenn man so will, hat Lars den Friedrich über das Koalitions-Klingbeil springen lassen.

Schon die zweite unverhoffte Delle in Linnemanns ansonsten makelloser und rostfreier Erfolgskarosserie. Vor der Bundestagswahl hatte er als ranghöchster Unions-Wahlkampfmanager nämlich noch 34 Prozent als “gutes Ergebnis” ausgerufen. Einfahren konnte die von ihm orchestrierte Kampagne dann nicht mal 29 Prozent. Unter Linnemanns Führung läuft die Union ihren eigenen Erwartungen noch langsamer hinterher als Borussia Dortmund. Friedrich Merz und sein SPD-Kuschelkurs stellen die Union daher nun vor eine Zerreißprobe, in der Carsten Linnemann zum ersten Kollateralschaden wird. Das unionsinterne Abtasten zwischen CDU und CSU, ob man inhaltlich noch als Traumpaar gilt, eskaliert dieser Tage in eine Art “Temptation Island” für Parteiausrichtungen. Nur dass Saskia Esken statt Lola Weippert das Ganze moderiert.

Macht sich Carsten Linnemann jetzt zum Helden eines aussterbenden Unions-Selbstverständnisses? Na ja. Klar ist nur, auch Linnemann liegt nicht immer goldrichtig. Im CDU-Podcast “Einfach mal machen” bezeichnete er Richard David Precht beispielsweise mal als “Philosophen, von dem man noch in 200, 300 Jahren sprechen wird”. Das ist in etwa so, als würde ich behaupten: Diese Kolumne ist so brillant, Martin Scorsese wird sie alsbald mit Margot Robbie als “Marie von den Benken” verfilmen.

So oder so ist unübersehbar: Die heile Koalitionswelt hat erste Risse. Neben dem Linnemann-Storno scheint es weitere Themen zu geben, die das Potenzial für ein erneutes Koalitionsdesaster besitzen. Koalitionsdesaster, oder wie man im Reichstag sagt: Lindneritis. 15 Euro Mindestlohn beispielsweise. Den hatte sich die SPD bereits als Soforterfolg ihrer sozialen Megapolitik ans Revers geheftet, während der designierte Kanzler Merz in klassischer Bernd-Stromberg-Manier konterte, das würde ja jetzt soooooooo nun wiederum auch nicht wortwörtlich im Koalitionsvertrag stehen. Um in dieser Legislaturperiode wirklich alles anders zu machen als die durch interne Reibereien gescheiterte Vorgängerregierung, scheint man auf die Karte zu setzen, sich jetzt bereits gegenseitig öffentlich per Blutgrätsche auf die Tartanbahn der Unglaubwürdigkeit zu treten, bevor der Kanzler überhaupt gewählt wurde. Das werden spannende Tage. Ich bleibe dran!

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