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Koalitionsvertrag: SPD-Mitglieder stimmen auch über Merz-Äußerungen ab – Politik | ABC-Z

Matthias Machnig kennt die Tücken von Koalitionsverträgen. Einige schon hat er erlebt. 1998 den von Rot-Grün, später als Wirtschaftsminister in Thüringen, dann als Staatssekretär in der zweiten großen Koalition von Angela Merkel. Und so irritiert den alten SPD-Fahrensmann jetzt schon das Kommunikationsverhalten von Friedrich Merz. Denn der, und das stellt nicht nur Machnig fest, interpretiert gerade manche Kompromisse ganz anderes als die SPD.

„Die Konflikte gehen schon los, bevor es überhaupt losgegangen ist“, meint Machnig. Das war noch nicht einmal bei der Ampel der Fall. Doch ohne die Zustimmung der SPD-Mitglieder kann Merz auch nicht Kanzler werden. „Die zentrale Frage ist doch: Worüber sollen die SPD-Mitglieder überhaupt abstimmen?“, fragt Machnig. „Nach den Äußerungen von Friedrich Merz weiß man nicht, was gilt, und was nicht.“ Sei es beim Mindestlohn, sei es bei Steuerentlastungen.

Bei der SPD haben sie am Sonntag intensiv den Auftritt des CDU-Chefs und wahrscheinlichen nächsten Kanzlers in der ARD bei Caren Miosga verfolgt. Sein Interview in der Bild am Sonntag zuvor hatte einige im roten Lager heftig in Wallung versetzt. Schließlich stimmen von diesem Dienstag an die SPD-Mitglieder über den Koalitionsvertrag ab, exakt 358 322 sind stimmberechtigt. Das Votum dauert bis zum 29. April, am 30. April soll das Ergebnis verkündet werden. Gibt es eine Mehrheit, ist die Kanzlerwahl im Bundestag und die Vereidigung der neuen Minister für den 6. Mai geplant.

Die Jusos sind klar: „Unser Votum lautet Ablehnung.“

Juso-Chef Philipp Türmer ist schon vorgeprescht. Er empfiehlt ein Nein, aus grundsätzlichen Erwägungen. „Unser Votum lautet Ablehnung“, sagte der Vorsitzende der Jungsozialisten bei RTL und ntv. Er kritisiert besonders Beschlüsse zur Rückabwicklung des Bürgergelds und die geplante Zurückweisung von Asylbewerbern an den Grenzen. Maßgeblich sei die Frage: „Reicht das, was in diesem Koalitionsvertrag drinsteht, inhaltlich für eine wirklich andere Politik?“, so Türmer. „Für uns reicht es nicht.“

Allerdings waren die Jusos auch bei früheren Bündnissen mit der Union mehrmals dagegen, nun aber könnte der Zwist mit CDU-Chef Merz gleich am Anfang mehr Mitglieder als bisher gedacht zum Nachdenken bringen. Allerdings rechnet die Parteiführung weiterhin mit einer klaren Zustimmung, zumal die SPD trotz ihrer lediglich 16,4 Prozent bei der Bundestagswahl sieben von 17 Bundesministern stellen soll.

SPD-Chef Lars Klingbeil hatte als eine Lehre aus der Ampel die Devise ausgegeben, dass im neuen Koalitionsvertrag alles möglichst ohne Interpretationsspielraum zu klären sei. Keine „verdeckten Dissense“, lautete die Marschroute. Doch schon jetzt ist klar, dass das nicht geklappt hat. Viele Vorhaben sind nicht sicher gegenfinanziert, die steigenden Krankenkassen- und Pflegekosten treiben zudem die Belastungen für Bürger und Unternehmen hoch. Der wohl wichtigste Satz des Vertrags steht auf Seite 51, Zeile 1627: „Alle Maßnahmen des Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt.“

Weil im Vertrag keine eindeutigen Prioritäten genannt sind, könnte es regelmäßig Debatten darüber geben, was machbar ist und was nicht. Da drohe ein ewiger „Koalitionsbasar“, meint ein Sozialdemokrat. Reihenweise melden sich am Montag Fachpolitiker, die Klarstellungen verschicken. So verweist die verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Isabel Cademartori, auf den Passus in der ARD-Sendung vom Sonntagabend Minute 47 und 58 Sekunden: Da sagt Merz, der Preis von 58 Euro für das Deutschlandticket sei nicht zu halten. „Die Vollkosten liegen zurzeit bei etwa 90 Euro. Und der hohe Subventionsbedarf für dieses Ticket, der steht auf dem Prüfstand.“

Im Koalitionsvertrag steht: „Das Deutschlandticket wird über 2025 hinaus fortgesetzt. Dabei wird der Anteil der Nutzerfinanzierung ab 2029 schrittweise und sozialverträglich erhöht.“ Also Erhöhungen, wenn, dann erst von 2029 an. Dabei bleibe es auch, sagt Cademartori. „Das Ticket ist ein riesiger Erfolg und auch Friedrich Merz täte gut daran, daran keinen Zweifel zu säen. Es gibt derzeit einen Zuschussbedarf, der von Bund und Ländern übernommen wird, aber je mehr Menschen das Ticket abonnieren, umso kleiner wird dieser Bedarf.“

Beim Thema 15 Euro Mindestlohn wiederum hat die SPD Erwartungen geweckt, deren Erfüllung nicht in ihren Händen liegt. Sondern in jenen der unabhängigen Mindestlohnkommission von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Seit Monaten aber macht die SPD Druck auf die Kommission. Relativ klar und einig sind sich Union und SPD hingegen bei der Unterstützung der Wirtschaft: Erst milliardenschwere Abschreibungen für Investitionen, 2028 dann der Einstieg in eine schrittweise Senkung der Körperschaftsteuern.

Strittiger scheint die von der SPD im Gegenzug verlangte Senkung der Einkommensteuer auf kleinere und mittlere Einkommen – die eigentlich 2027 kommen soll. Bei Caren Miosga betonte Merz, dass es der Wille sei, dieses Vorhaben umzusetzen. „Aber wir machen keine Versprechungen, die wir nicht erfüllen können.“ Stichwort Finanzierungsvorbehalt. Juso-Chef Türmer nennt den im Vertrag festgeschriebenen Vorbehalt für alles eine „tickende Zeitbombe“.

Der Seeheimer Kreis wirbt vehement für das neue Regierungsbündnis

Noch muss sich Merz trotzdem keine größeren Sorgen machen – die Mehrheit der Mitglieder ist deutlich konservativer eingestellt als die Jusos. SPD-Chef Klingbeil stellt zudem die Frage, was angesichts des AfD-Höhenflugs die Alternative zu einer Koalition der demokratischen Mitte sei. Angesichts der weltpolitischen Turbulenzen müsse Deutschland ein Hort der Stabilität bleiben. Ein lang gedienter Bundestagsabgeordneter hält den Widerstand der Jusos für überschaubar, das werde „kein Flächenbrand“. Gefährlicher sei aber eben die bereits einsetzende Auslegungsdiskussion zu den Themen Mindestlohn, Steuerentlastungen und Steuererhöhungen.

Wie dramatisch schon die Veränderungen bei der SPD sind, was es mit der gewünschten Stabilität nicht leichter macht, zeigt eine Zahl. Beim letzten Mitgliedervotum über einen Koalitionsvertrag, im März 2018, waren noch 463 723 SPD-Mitglieder stimmberechtigt, mehr als 105 000 mehr als heute, sieben Jahre später. Mit Ja stimmten damals 66 Prozent. 2021 verzichtete man auf so ein Votum, da die SPD selbst den Kanzler stellte. Erstmals hatte die Partei im Dezember 2013 die Mitglieder über den Eintritt in eine Koalition abstimmen lassen. Damals gab es eine Zustimmung von 75,96 Prozent zur Bildung einer Koalition mit CDU/CSU unter Führung von Angela Merkel.

Der konservative Flügel in der SPD-Bundestagsfraktion, der Seeheimer Kreis, will sich anders als die Jusos engagiert für das Bündnis bei den Mitgliedern einsetzen. Veränderungen bewirken, das Land besser machen, das gehe nur in der Regierung, nicht in der Opposition, sagt Seeheimer-Sprecher Dirk Wiese der SZ. Gerade in der aktuellen Zeit mit Putins Krieg gegen die Ukraine, einer zweiten Amtszeit von Donald Trump und wachsendem Rechtspopulismus in Europa sei es umso dringender, dass die Sozialdemokraten dem mit der Union ausgehandelten Koalitionsvertrag zustimmen. Zudem verweist er darauf, dass Merz durch die Vereinbarungen in der Union unter Druck geraten ist. Bei den Themen Mindestlohn, Rente, mehr Tarifverträge, Erneuerung der Infrastruktur habe die SPD viel herausgeholt für die, „die den Laden in diesem Land am Laufen halten“.

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