Popduo AIGEL: Wie klingt Exil? | ABC-Z

Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 16/2025.
Das Lied setzt als Störgeräusch ein, wie die Vertonung chronischer Schmerzen, dann übernimmt ein schneller Beat. Umgeben von der Musik wogt das Publikum vor Aigel Gaisina im weiß-flackernden Scheinwerferlicht, nur Einzelne erstarren, die Gesichter eingefroren, als sie die Worte begreifen.
Gaisina singt: “Ja, Wir sind hier allein / Alle Verwandten graben in einer fremden Erde Schützengräben / Eine Menge Geld / Eine Menge Blut / Eine Menge Fragen / Eine Menge Schützengräben”
Der neue Song namens Eine Menge ist der erste, den sie auf Deutsch geschrieben hat. Neben Gaisina steht Ilya Baramia und steuert den Beat über seinen Sampler, eine AKAI MPC Live. Er wippt zum Beat, lässt den Blick zum Publikum hin schweifen, während Gaisina über die Bühne stampft. Zwischen den Liedern wird sie ruhig und richtet sich an das Publikum, vertraut, als würde sie mit alten Bekannten sprechen. “Heute bin ich zu Hause – in Berlin”, sagt sie auf Englisch.
Gaisina, 38, und Baramia, 51, sind das russisch-tatarische Musikduo AIGEL. An diesem Freitagabend Mitte April treten sie im ausverkauften Bi Nuu in Berlin-Kreuzberg auf. Die Location ist ausverkauft – und doch wirkt die Zahl von 400 Zuschauern winzig, verglichen mit den Hallen, die AIGEL früher füllten.
Seit 2017 treten die beiden zusammen auf, sie veröffentlichen vier Alben innerhalb von vier Jahren. Mehr als 326.000 Menschen hören ihre Musik monatlich auf Spotify, einzelne Songs wurden Millionen Mal auf YouTube aufgerufen. Чудовище (Tschudowischtsche, deutsch: Ungeheuer): über zwei Millionen Klicks. Пыяла (Pıyala, deutsch: Glas): über 57 Millionen Klicks. Татарин (Tatarin, deutsch: Tatar): über 134 Millionen Klicks. Für Letzteres erhielten sie 2018 außerdem eine Auszeichnung der jährlich stattfindenden Berlin Music Video Awards.
Aktuell touren sie durch 17 Städte von Tallinn bis Lissabon, einmal quer durch Europa. Auslassen werden AIGEL das Land, aus dem die meisten der Klicks kommen, in dem sie früher Hallen füllten, in dem sie 2021 sogar für einen Auftritt in die Nationalgalerie eingeladen waren, zwischen den Werken von Wassily Kandinsky und Kasimir Malewitsch performten: Russland.
Ein Video von dem Auftritt in der Neuen Tretjakow-Galerie in Moskau gibt es auf YouTube noch. Gaisina singt damals auf Russisch: “Bist du da? Schweige nicht!” Immer wieder, ihre Stimme durchschneidet den gleichförmig dumpfen Elektrosound. Es ist eine Zeile aus ihrem Lied Мне мерещится земля (Mne mereschtschitsja semlja, deutsch: Mir erscheint die Erde), in dem sich Gaisina an einen Geliebten wendet. Und doch klingt es auch nach einem politischen Appell.
Der Auftritt ist noch nicht einmal vier Jahre her, aber er wirkt wie aus einer anderen Zeit.
In Russland haben AIGEL heute Auftrittsverbot. Es fing im Herbst 2022 damit an, dass ihre geplanten Konzerte abgesagt wurden. Eines nach dem anderen: St. Petersburg, Jekaterinburg, Nowosibirsk. Am Ende blieb kein Auftritt übrig, nicht wegen eines offiziellen richterlichen Beschlusses – die Veranstalter hätten einfach den Hinweis erhalten, dass AIGEL nicht mehr erwünscht seien, erzählt das Duo. Sie haben den Krieg in der Ukraine vom ersten Tag an laut verurteilt. Fast auf den Tag genau ein Jahr nach ihrem Auftritt im Nationalmuseum mussten die beiden ihre Heimat verlassen.
Damit gehören sie zu einem ganzen Orchester an kritischen russischen Stimmen, das seit dem Kriegsbeginn ins Exil gezwungen wurde und sich über Europa zerstreut hat. Rapper Noize MC, Sängerin Monetotschka, das Elektroduo IC3PEAK, die Punkband Pornofilmy – die Liste ließe sich fortsetzen. Wer politisch nicht auf einer Linie mit dem Kreml ist, den drangsaliert das Regime mit vermeintlichen Drogenrazzien und Konzertverboten bis hin zum Label als “Ausländischer Agent”. Spätestens nach dem Kriegsbeginn blieb deswegen nur die Wahl zwischen Schweigen und Gehen. Viele gingen nach Berlin, das sich zum Zentrum der zersplitterten russischen Opposition entwickelte.
In der Ukraine führten sie die Charts an – als Russen
Aus ihrem Exil beobachteten AIGEL dann im Herbst 2023 etwas Ungewöhnliches. Drei Jahre nach seiner Erstveröffentlichung schoss ihr Song Pıyala in mehreren Ländern an die Spitze der Streamingcharts. Grund dafür war seine Verwendung in einer TV-Serie. Auf Instagram posteten AIGEL Screenshots der Nummer-eins-Platzierung: in Kasachstan, in Kirgisistan, in Belarus, in Lettland, in Estland. Ein Land fehlt: Sogar in der Ukraine wurde Pıyala zum Nummer-eins-Hit auf Spotify.
Anfang März dieses Jahres sitzen Gaisina und Baramia in einem Restaurant in Berlin-Mitte. In vier Tagen beginnt mit dem Konzert in Helsinki die Tour, Baramia ist für die Proben aus Montenegro angereist, wo er inzwischen mit seiner Familie wohnt. Gaisina lebt seit eineinhalb Jahren mit ihrer Tochter in Berlin und ist zu Fuß zum Gespräch gekommen. Beide sind während des Interviews auf Russisch voll fokussiert, blicken sich kaum um. Als die Kellnerin zwei Ingwertees hinstellt, bedankt Gaisina sich auf Deutsch. Sie hat es in der Schule in Tatarstans zweitgrößter Stadt Nabereschnyje Tschelny gelernt, wo sie aufgewachsen ist.
Auf den Erfolg von Pıyala angesprochen, sagt Gaisina sachlich, fast zurückhaltend: “Es war faszinierend, das Schicksal des Liedes zu verfolgen und zu sehen, in wie vielen Ländern es die Charts anführt.” Dass es auch in der Ukraine so erfolgreich gewesen sei. Trotz des Krieges. “In der Ukraine hatten wir immer viele Hörer”, erzählt sie. Die größten Konzerte hätten früher neben jenen in den russischen Metropolen Moskau und St. Petersburg in Kyjiw stattgefunden.