Klimabilanz von Bühnen: Eine neue Logik | ABC-Z
Wie wäre es mit einem bundesweiten Fundus für Kostüme? Das nun startende „Fragile“-Festival in Wuppertal fordert Nachhaltigkeit für die Bühnen.
In eckigen Bewegungen, die auf seltsame Weise trotzdem fließen, die zum menschlichen Körper nicht passen, aber doch organisch erscheinen – so werden Insekten in „l’œil, l’oreille et le lieu“ von Michèle Noiret gezeigt. Die Choreografie öffnet durch die tänzerische und vom Insekt auf den menschlichen Körper vergrößerte Darstellung den Zugang zu einer Welt, die den meisten Menschen im Alltag verborgen bleibt: die Welt der Insekten, die so stark gefährdet sind – mit fatalen Folgen für die Umwelt.
Gezeigt wurde die Tanzproduktion beim Festival „Fragile“ im vergangenen Jahr. Ein internationales Festival zu Nachhaltigkeit und Kunst rund um das zukünftige Pina Bausch Zentrum in Wuppertal. Ein Jahr später hat die Choreografie nichts von ihrer Eindrücklichkeit verloren: Bettina Milz, Koordinatorin am entstehenden Pina Bausch Zentrum, und Carolin Baedeker, die am Wuppertal Institut stellvertretend den Bereich nachhaltiges Produzieren und Konsumieren leitet, nennen das Stück beispielhaft für das, was Kunst in Bezug auf den Klimaschutz leisten kann.
Sie erwähnen auch Paula Riquelme Orbenes und das Ensemble Maraña mit der Produktion „Organismo“, die ebenfalls 2023 gezeigt wurde: Dort bewegen sich die Tänzer*innen durch ein gehäkeltes, vernetztes Korallenriff – und betonen damit seine Schönheit, anstatt ausschließlich auf die extreme Bedrohung der Korallenriffe durch Überfischung oder Wasserverschmutzung hinzuweisen. Es gehe in den gezeigten Stücken nicht um eine Katastrophenpädagogik, sondern darum, einen neuen Zugang zu den Themen zu bekommen. „Sinnliche Situationen erreichen unsere Seele anders“, beschreibt Carolin Baedeker. So beschäftige man sich auch nach den Aufführungen noch mit den Themen.
Die Inhalte spielen eine große Rolle, bei der Auswahl der Stücke und der Produktionen für das Festivalprogramm. Zum Handeln ermutigen will man bei Fragile so. Wichtig ist darüber hinaus auch der internationale Austausch, globale Empathie. Wie im Stück „Amazonia 2040“ von Martha Hincapié Charry, das in diesem Jahr auf dem Programm steht. Die Choreografin erinnert darin an indigenes Wissen und damit an ein Umweltbewusstsein, das uns abgeht und mit der Zeit endgültig verloren gehen könnte.
Diese Form des internationalen Austauschs ist aber nur möglich, wenn manche der Künstler*innen eine weite Anreise haben – was wiederum in die Klima-Bilanz des Festivals hineinspielt. Denn die Mobilität, vor allem die des Publikums, aber eben auch die der Künstler*innen und ihrer Materialien, mache einen Großteil der Emissionen aus, sagt Rebecca Heinzelmann. Sie ist Nachhaltigkeitsmanagerin für Kultur und Festivals, Theater und Bühne, und arbeitet sich durch viele Excel-Tabellen, um der Antwort auf die Frage, wie Kulturproduktionen möglichst klimaneutral funktionieren könnten, auf die Spur zu kommen.
Wenn niemand kommt, hat man auch keine Emissionen, aber das wäre komplett absurd
„Die Eintrittskarte beinhaltet ein Ticket für den ÖPNV, aber die meisten wissen das gar nicht“, sagt Heinzelmann. Deshalb – und vermutlich, weil es einfacher und bequemer ist – reisen die meisten Zuschauer*innen mit dem Auto an. „Wenn niemand kommt, hat man auch keine Emissionen, aber das wäre ein komplett absurdes Anliegen“, ergänzt Bettina Milz und weist darauf hin, dass Verbesserungen in Mobilität und ÖPNV in der Verantwortung anderer liegen.
Jedenfalls stelle sich die Frage nach der Wesentlichkeit: Das Festival braucht Publikum, das zwar Emissionen produziert – aber die sollen bilanziert und dann kompensiert werden, insofern sie nicht über Ökostrom oder schlichte Einsparungen vermieden oder verlagert werden können. Da hinein spielt nicht nur die Mobilität, sondern natürlich auch der Wasser- und Stromverbrauch vor Ort sowie Angebote wie Catering, bei dem man über veganes Essen schon eine klimafreundlichere Richtung einschlagen kann.
Ganz am Ende der vielen Excel-Tabellen von Rebecca Heinzelmann steht dann also das Kompensieren. Das macht das Pina Bausch Zentrum „Under Construction“ über Dienstleister*innen. Aktuell bevorzugt das Festival-Team einen regionalen Ausgleich und überlegt unter anderem, Bäume im Sauerland zu pflanzen. Doch wie viel genau kompensiert werden muss, wissen sie erst nach dem diesjährigen Festival. Deshalb hieß es schon bei der Planung, nicht nur die Themen nachhaltig auszuwählen, sondern auch die Produktionen selbst: „Es geht um eine andere Logik“, sagt Milz, die neben Mitgliedern von Fridays for Future Wuppertal, der Junior Uni und Tanz-Kurator*innen in der Jury saß und das Stück „Grün“ von tanzfuchs aus Köln ausgewählt hat, auch wenn es in den Nachbarstädten Wuppertals bereits gezeigt wurde.
Das Tanz- und Gesangsstück für Erwachsene und Kinder handelt vom Pflanzenreich und dem, was Menschen und Pflanzen gemeinsam haben: Beide atmen und wachsen, brauchen Sonne und Wasser. „Wir wollen eine Ermutigung aussprechen, nicht immer nur das Neueste und Aktuellste zu zeigen, sondern auch Produktionen öfter zu zeigen, die dann eben schon in Düsseldorf, Köln oder Hamburg gesehen wurden.“
Dem Organisationsteam des „Fragile Festivals“ geht es auch um ökonomische Nachhaltigkeit. Wenn ein Stück so klimafreundlich ist, dass es unglaublich teuer wird und deshalb andere Stücke wegfallen, ist diese Entscheidung nicht nachhaltig. Ähnlich sieht es beim Material aus: Für ein Circular Dinner hat das zukünftige Pina Bausch Zentrum ein abgespieltes Bühnenbild in eine lange Speisetafel verwandelt, auf der nur gerettetes Essen serviert wurde. Vom Material her gedacht super nachhaltig, der Haken waren allerdings die 11.000 Euro, die an Arbeitsstunden in das Projekt geflossen sind.
Nachhaltig zu handeln, scheitert manchmal auch an Organisatorischem: Bei fast jeder Produktion werden neue Bühnenbilder, Requisiten und Kostüme angefertigt – einfach, weil es aktuell noch schwierig ist, in Erfahrung zu bringen, welche Häuser was haben und wohin sie verleihen könnten. Rebecca Heinzelmann und Bettina Milz wünschen sich einen ausgearbeiteten bundesweiten Fundus, der es ermöglicht, Bühnenbilder, Kostüme und Requisiten zu tauschen, anstatt sie immer neu zu produzieren.
„Hier muss ich eine Lanze fürs Theater brechen“, sagt Bettina Milz. „Die Gewandmeister*innen und Kostümbildner*innen leisten handwerklich so brillante Arbeit, dass die meisten Dinge noch nach einem halben Jahrhundert genutzt werden können – und das spart wahnsinnige Kosten.“ Wenn diese hochwertigen Gegenstände nun mehr ausgetauscht werden könnten, ließe sich womöglich eine veränderte Logik im Bühnenbereich erkennen – und darüber hinaus, wenn das Publikum die Themen durch die emotionale Auseinandersetzung in den Alltag trägt.