Klima-Labor mit Boris Palmer: „Gesellschaft hält grüne Werte bei Migration und Sicherheit nicht aus“ | ABC-Z

Für Boris Palmer und die Grünen gibt es anscheinend kein Happy End. „Ich kann nicht mehr bei den Grünen sein“, stellt der Oberbürgermeister von Tübingen im „Klima-Labor“ von ntv klar. Auch eine Wahlempfehlung mag Palmer seiner alten Partei nicht ausstellen, er wünscht sich Friedrich Merz als Bundeskanzler. An Robert Habeck liegt es nicht. „Als Person würde ich ihn vorziehen“, sagt Palmer. „In der Migrations- und Wirtschaftspolitik wäre ein grüner Kanzler aktuell aber nicht die beste Lösung“, urteilt der Tübinger Rathauschef. Gleichzeitig wünscht er Habeck eine entscheidende Rolle im Kabinett von Merz, Deutschland ebenso einen gemäßigteren Umgang mit der AfD. „Brutalen Ärger“ hat Palmer mit der Bundeswehr: „Die erlaubt uns nicht, drei Windräder direkt neben unserer Kläranlage zu bauen.“
ntv.de: Die meisten Menschen sind harmoniebedürftig. Auf Ihrer Facebook-Seite wird dagegen immer gestritten. Warum? Können Sie nicht anders?
Boris Palmer: Ich streite mich schon gerne. Helmut Schmidt hat mal gesagt: Streit ist das Salz in der Suppe der Demokratie. Ich finde es langweilig, sich nicht zu streiten, dann wären alle einer Meinung. Das passiert selbst in einer guten Ehe nicht. Und es ist einfach nicht gut, Differenzen nicht auszutragen.
Dann müsste die Ampel die beste Bundesregierung Deutschlands gewesen sein, die hat sich ununterbrochen gestritten.
Es gibt natürlich zwei Arten von Streit, den destruktiven und den konstruktiven. Wenn es darum geht, anderen wie kleinen Kindern die Sandburg kaputtzuhauen, ist Streit destruktiv. Konstruktiver Streit stellt die besten Argumente gegeneinander, damit sich jeder ein Bild machen und entscheiden kann. Das hat die Ampel nicht hinbekommen.
Hängt die Art des Streits auch von der Wortwahl ab?
Diese Hypersensitivität, dass man jedes Wort auf die Goldwaage legt, halte ich für Unfug. Ich möchte deutlich sagen können, was ich meine, ohne dass andere sich sofort verletzt fühlen. Dann kann man nicht mehr über die Sache reden, sondern muss Verletzungen behandeln. Sie können gerne verletzt oder verärgert sein, aber diese Hysterie ist ein Machtinstrument: Statt sich um ein besseres Argument zu bemühen, zieht man sich auf die Verletzung zurück – meistens verbunden mit dem Anspruch, dass der andere sich nicht mehr äußern darf. Das geht nicht. In einer Demokratie muss ich aushalten, dass andere etwas sagen, was mir nicht passt. Die Ampel hatte aber ein anderes Problem: Sie hat versucht, die Projekte der jeweils anderen zu verhindern oder zu zerstören. Das sieht man an Lindners Ausstiegspapier. So kann man nicht regieren.
Als „Everybody’s Depp“ schon? Diesen Titel haben Sie sich selbst gegeben, weil Sie sich einen Kanzler Friedrich Merz mit einem Klimaschutzminister Robert Habeck wünschen.
Ich habe mir erlaubt, Franz Josef Strauß zu zitieren. Das war ein lauter und polteriger bayerischer Ministerpräsident und Verteidigungsminister. Der würde heute wahrscheinlich als rechtsextremer Gefühlsverletzer nirgendwo eine Bühne bekommen, aber ich fand es immer genial, wenn er in der Bonner Runde aus dem Fernseher heraus gekläfft hat. Das war super Unterhaltungsfernsehen in meiner Kindheit. Strauß hat gesagt: Everybody’s Darling is everybody’s Depp. Man kann es nicht allen recht machen, sondern muss seine Meinung sagen und aushalten, wenn andere sie blöd finden. Das ist mir passiert.
Warum sind sie denn für Friedrich Merz als Bundeskanzler?
Ich habe in einem Zeitungsinterview gesagt, dass ich selbst nicht so recht weiß, wen ich wählen soll, weil mir zwei Dinge wichtig sind: Ich möchte einen echten Kurswechsel in der Migrations-, vor allem aber in der Wirtschaftspolitik. Dafür wünsche ich Merz ein starkes Mandat, denn weitermachen wie bisher geht nicht. Die Wirtschaftswende darf aber nicht auf Kosten des Klimas gehen. Deswegen möchte ich, dass Habeck Klimaschutzminister bleibt. Daraufhin haben mir die einen erklärt, dass ich ein Volldepp bin, weil ich Habeck als Minister behalten will, und die anderen, wie furchtbar Merz ist.
Robert Habeck ist aber auch Kanzlerkandidat. Trauen Sie ihm diese Rolle nicht zu?
In den Umfragen steht die Union aktuell bei 32 Prozent und die Grünen bei 14 Prozent. Mir fehlt die Vorstellung, wie sich das drehen lässt.
Die Kanzlerrolle würden Sie Robert Habeck aber zutrauen?
Ja, vielleicht sogar mehr als Merz. Ich kenne Robert Habeck seit 20 Jahren, finde ihn integer und schätze ihn sehr. Als Person würde ich ihn als Kanzler vorziehen. Er trägt aber viel Gepäck meiner alten Partei mit sich herum. Gerade in der Migrations- und Wirtschaftspolitik wäre ein grüner Kanzler aktuell nicht die beste Lösung.
Die Grünen haben gerade unter Robert Habeck in Migrationsfragen fast alles mitgemacht.
Wenn die Grünen die Wahl mit 29 Prozent gewinnen sollten, wäre das kein persönlicher Erfolg von Robert Habeck, sondern von grünen Werten und Themen. Diese Wahrnehmung wäre nicht falsch, würde aber bedeuten, dass die Grünen in der Migrations- und Sicherheitspolitik auf Schritte drängen, die ich für falsch halte: Öffnung statt Regulierung und Ordnung. Das können die Kommunen nicht leisten und hält die Gesellschaft nicht aus. Das wollen die Leute offensichtlich auch nicht. Die Grünen sind chancenlos, Kanzlerpartei zu werden.
Deutschland benötigt aber Migration, um den Fachkräftemangel auszugleichen.
Natürlich. Ohne Arbeitskräfte mit Migrationshintergrund müsste jedes Krankenhaus oder Pflegeheim morgen schließen. Das sind nicht die einzigen Bereiche, wo es so ist, aber die wichtigsten. Die Leute verstehen und akzeptieren auch, dass wir Migration in den Arbeitsmarkt benötigen. Sie wollen aber keine Leute, die als Flüchtling zu uns kommen und dann im Stadtpark Drogen verkaufen oder am Bahnhof Leute anpöbeln. Das ist legitim. In den vergangenen zehn Jahren hat die Arbeitsmigration leider nur ein Zehntel der Fluchtmigration betragen. Migration in soziale Transfersysteme halte ich aus humanitären Gründen für richtig und nötig – aber begrenzt.
Das „Klima-Labor“ können Sie bei ntv.de lesen oder sich bei RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify und auch über den RSS-Feed anhören.
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Die Art und Weise, wie über dieses Thema gesprochen oder gestritten wird, hört sich allerdings für qualifizierte Fachkräfte im Ausland, die wir gerne nach Deutschland holen wollen, so an, dass sie unerwünscht sind.
Die Diagnose teile ich. Deutschland gilt mittlerweile als nicht mehr offen für Menschen aus anderen Ländern. Das hat einen zweiten furchtbaren Effekt: Menschen, die schon lange hier und gut integriert sind, aber nicht „biodeutsch“ aussehen, werden in Mithaftung gezogen. Gerade junge Männer. Das gefährdet bereits erfolgte Integration. Dieses Problem lässt sich aber nicht durch andere Sprache lösen, wir müssen die Probleme in den Griff bekommen: härtere Sanktionen, Abschiebungen und mit Strafen nicht erst bis zum 29. Vorfall warten. Wir haben im öffentlichen Raum ein Sicherheitsproblem, das auf viele Bereiche ausstrahlt.
Mit diesen Themen punktet auch die AfD. Die steht in Wahlumfragen auf dem zweiten Platz. Nicht nur Menschen in Ostdeutschland, auch Teile der Startup-Szene plädieren inzwischen für eine schwarz-blaue Koalition. Kann man das ignorieren und sich Robert Habeck mit seinem „grünen Gepäck“ als Minister wünschen? Würde die Wut der Menschen nicht noch größer? Die AfD soll bereits auf die Machtübernahme 2029 schielen, wenn das nächste Mal gewählt wird.
Es ist legitim, von Unzufriedenheit und nicht besonders gelungenem Regierungshandeln zu profitieren. Das macht jede Partei. Wir machen im Umgang mit der AfD aber einen schweren Fehler: Wir behandeln sie als moralisch minderwertigen Paria und eine Partei zweiter Klasse, die man ausgrenzen muss. Das erzeugt bei Wählern einen Widerwillen: Wird man schlecht behandelt, wehrt man sich und landet erst recht in der Wagenburg der AfD. Dann hört man auch nicht mehr zu oder nimmt Argumente ernst. Dieser Fehler kulminiert für mich in dem Wort „Brandmauer“ und führt dazu, dass die AfD immer stärker wird. Ich würde auf Bundesebene trotzdem nicht mit ihr koalieren, aus inhaltlichen Gründen: Ich möchte nicht aus der EU austreten oder bei Wladimir Putin unter dem Tisch sitzen. Ich will auch nicht, dass Arbeitskräfte, die nicht gerade drei Generationen deutsch sind, das Land verlassen müssen. Das schadet der deutschen Wirtschaft.
Haben Sie keine Sorge, dass Ihr Regierungswunsch der AfD den Weg bereitet? Die Union streitet seit Monaten darüber, wie sie mit den Grünen umgehen sollte. Dem bayerischen Ministerpräsidenten ist offensichtlich alles daran gelegen, die Grünen als Koalitionspartner der Union zu verhindern. In einer schwarz-grünen Bundesregierung wäre destruktiver Streit doch vorprogrammiert.
Die nächste Bundesregierung muss liefern. Schmiert die Wirtschaft weiter ab, ist die Gefahr, dass die AfD 2029 stärkste Kraft wird, enorm groß. Welche Regierung am besten geeignet ist, muss man sehen. Ich glaube, Klimaschutz geht ohne die Grünen unter und die schwarz-rote Alternative käme bei den Wirtschaftsreformen nicht voran. Die SPD verteidigt mit Zähnen und Klauen Standards im sozialen Bereich, die wir nicht mehr bezahlen können: Die Rente mit 63 kostet 10 Milliarden Euro im Jahr. Das Geld sollten wir in Forschung und Entwicklung investieren, statt in frühere Renten von top gesunden Leuten. Die verabschiede ich regelmäßig aus meiner Verwaltung, dann gehen sie auf Amerikareise. Das ist mehrfach passiert und einfach nicht richtig. Für mich ist Schwarz-Grün die bessere Alternative.
Aber wie senken wir den Frustlevel der Bevölkerung? Die Zahl der Arbeitslosen steigt, die Mieten auch, Wohnungen bleiben knapp. Die Rentenbeiträge steigen, genauso die Sozialversicherungsbeiträge. Gleichzeitig müssen wir teure Dinge wie die Energiewende stemmen.
Wenn wir wirtschaftlich nicht stark sind, können wir Klimaschutz nicht finanzieren. Das ist eine traurige Tatsache, die ich an einem aktuellen Fall erläutern kann: Wir haben in Tübingen ein Konzept, bis 2030 alle Busse auf Elektrobusse umzustellen. Beim Ausbau der Erneuerbaren sind wir im Plan, der Strom ist da. Wir können aber die Eigenmittel für die Elektrobusse nicht stemmen, also müssen wir die Förderbescheide des Bundes zurückgeben. Das Ziel „Klimaneutraler Stadtverkehr bis 2030“ wurde aus finanziellen Gründen storniert.
Weil die Tübinger Kassen leer sind?
Ja. Wir haben Pflichtaufgaben. Ich kann den Menschen nicht erklären, dass wir ein Schwimmbad und ein Theater für die Umstellung auf Elektrobusse schließen müssen. Die sagen nur: So habe ich mir Klimaschutz nicht vorgestellt! Deswegen müssen wir die Wirtschaft wieder flott kriegen und stärker als bisher darauf achten, wie man das Klima kosteneffizient schützt. Die Elektrobusse wären fürs Prestige großartig gewesen, aber im Vergleich mit Autos sind auch Dieselbusse bereits sehr klimaeffiziente Fahrzeuge. Solche Überlegungen muss man vermehrt anstellen.
Und zwar mit einem konservativen Umweltbewusstsein, also ohne „woke“ zu sein?
Ich bin wahrscheinlich das merkwürdige Pflänzchen, das genau das seit Jahren praktiziert. Ich war nie woke. Das halte ich für einen absoluten Irrweg und kann deswegen auch nicht mehr bei den Grünen sein. Das finde ich traurig. Als ich in die Partei eingetreten bin, gab es „woke“ nicht. Das hat null mit Klimaschutz zu tun, es ist eine zufällige Überschneidung. Klimaschutz ist Physik. Auch Konservative können nachrechnen, was passiert, wenn wir uns gegen die Physik stellen. Das ist eine dumme Idee. Die Lösungen müssen aber ökonomisch tragfähig und sozial ausgewogen sein, sonst machen die Leute nicht mit und andere Länder lachen sich über unsere Energiewende tot: Die Deutschen haben uns gezeigt, wie wir es nicht machen sollten.
Unökonomisch?
Leider hat die Kosteneffizienz beim Klimaschutz bisher nicht die Rolle gespielt, die sie spielen muss, und ihn deshalb in Misskredit gebracht. Immer mehr Menschen denken, dass Klimaschutz ein wesentlicher Grund für den Niedergang der deutschen Wirtschaft ist. Das stimmt nur in Teilen, der Hauptgrund ist der russische Krieg gegen die Ukraine. Deswegen sind die Energiepreise explodiert. Aber wenn man den Klimaschutz nicht kosteneffizient hinbekommt, funktioniert er nicht.
Funktioniert die Energiewende in Tübingen kosteneffizient? Und die Wärmewende? Gerade die kommunale Wärmeplanung ist für viele Kommunen eine große Belastung.
Wir haben zum Glück früh damit angefangen. Ein Viertel von Tübingen wird mit Fernwärme versorgt, wirtschaftlich konkurrenzfähig. Für eine Stadt mit ausreichender Dichte ist ein Netz nicht teurer als Einzelheizungsanlagen. Dieses Netz möchten wir ausbauen. Das wird wirtschaftlich gelingen. Die schwierige Frage ist tatsächlich die Umstellung auf erneuerbare Energien. Die könnten wirtschaftlich sein, sind es aber nicht, weil uns die Bundeswehr nicht erlaubt, drei Windräder direkt neben unserer Kläranlage zu bauen. Den Strom könnte man direkt zur Kläranlage schicken, Flusswärmekraftwerk und Abwasserwärmekraftwerk betreiben und über Großwärmepumpen Wärme für das Fernwärmenetz erzeugen – zu denselben Preisen, die Öl und Gas liefern. Das würde gehen. Das ärgert mich brutal.
Was stört die Bundeswehr daran?
Die Bundeswehr kann nicht um die Windräder herumfliegen. Ich habe das Thema anderthalb Jahre lang bis zum Minister bearbeitet: Die Tiefflugstrecke für Hubschrauber müsste 500 Meter nach links verlegt werden und alles wäre gut. Aber dafür gibt es kein Verfahren in Deutschland. Mit dieser Bürokratie machen wir die Energiewende so teuer, dass sie am Ende tatsächlich nicht funktioniert.
Mit Boris Palmer sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast „Klima-Labor“ anhören.
Was hilft wirklich gegen den Klimawandel? Das „Klima-Labor“ ist der ntv-Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen, Lösungen und Behauptungen auf Herz und Nieren prüfen. Ist Deutschland ein Strombettler? Vernichtet die Energiewende Industrie & Arbeitsplätze? Warum erwarten so viele Menschen ihren ökonomischen Abstieg? Warum sind immer die Grünen schuld? Sind Seeadler wirklich wichtiger als Windräder? Kann uns Kernkraft retten?
Das Klima-Labor von ntv: Jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert, Spaß macht und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed
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