Kinofilm „Louise und die Schule der Freiheit“ | ABC-Z

Der Fortschritt hat klare Verläufe. Er beginnt in den Zentren, und erreicht später die Peripherie. Er wird in kleinen Gruppen ausgedacht und erreicht irgendwann die Massen. So oder so ähnlich hat man sich den Lauf der Geschichte lange vorgestellt, jedenfalls auf der Seite des politischen Spektrums, das sich als progressiv verstand. Auch die Lehrerin Louise Violet gehört auf diese Seite. In der ersten Szene des Films „Louise und die Schule der Freiheit“ sitzt sie einem Mann gegenüber, von dem nur die Stimme zu hören ist. Er gehört offensichtlich zur französischen Bürokratie. Widerwillig erteilt er ihr einen Auftrag: Louise wird als Dorfschullehrerin in eine Gegend geschickt, in der bisher kein Unterricht stattfand.
Man hört deutlich, dass der Vorgesetzte das Unterfangen für verlorene Zeit hält. Wie soll eine Frau in Verhältnissen bestehen, die von Unwissen, Mühsal und steinalten Traditionen bestimmt sind? Louise Violet ist eine Figur des späten 19. Jahrhunderts. Sie ist eine Figur der Aufklärung in einer Welt, die so tut, als wäre das Leben in erster Linie Natur. Als sie ihren Bestimmungsort erreicht, weist ihr der Bürgermeister einen Platz im Stall neben der Kuh zu. Louise muss erst einmal Werbung machen für den Unterricht. Zu Fuß und zum Teil sogar auf Skiern klappert sie die zum Teil weit entlegenen Höfe ab, auf denen Kinder leben, die sie zu „citoyens“ heranbilden soll. Denn in Frankreich hat eine neue Zeit begonnen. Frankreich ist schon seit einer Weile eine Republik. Und eine Republik braucht Subjekte, die lesen, schreiben, rechnen und mit ihren Gedanken etwas anfangen können.
Der Regisseur Éric Besnard, der die Geschichte von Louise Violet erzählt, wurde im französischen Kino zu einem Star, weil er dem Fortschritt eine Gegenrichtung aufgezeigt hat. In einem zentralistischen Land ist er ein Verfechter der Provinz. 2015 brachte er „Birnenkuchen mit Lavendel“ heraus, der deutsche Verleih entschärfte damals ein wenig das Pathos des französischen Originaltitels „Le goût des merveilles“, so viel wie: „Der Geschmack der Wunder“.
Längst ist das Hin und Her mit dem Fortschritt als dialektisch durchschaut, und Besnard formuliert in dieser Dialektik beharrlich seine These. Er setzt auf „Die einfachen Dinge“, so hieß 2023 der Film, mit dem er besonders großen Erfolg hatte. Das moderne, digitale, hyperaktive Frankreich in Gestalt eines Unternehmers, bei dem man gut an Elon Musk denken mochte, traf auf einen Aussteiger, der sich in die Berge zurückgezogen hatte.
Der Postbote wird ihr Verbündeter
Nun spielt Besnard seine Grundkonstellation noch einmal an einem neuralgischen Punkt der Geschichte durch. Denn im späten 19. Jahrhundert vollzog sich ein Wandel, der viel mehr mit sich brachte als nur Fortschritt. In dieser Zeit zerbrach eine Ordnung, die sich im wesentlichen seit den Tagen Jesu kaum verändert hatte – so beschrieb Charles Péguy die Welt, die für ihn vor allem durch den Kontakt mit der Geldwirtschaft unterging.
Louise Violet sorgt zuerst einmal für andere Kontakte. Sie bringt mit den vielen Briefen, die sie schreibt, den Postboten in Schwung, der dann auch schnell ein wichtiger Verbündeter für sie wird. Der Bürgermeister wiederum weiß nicht so recht, wie er mit dieser schönen, kultivierten, aber auch offensichtlich einsamen und von einem unbekannten Leid geprägten Frau, die von der französischen Theater- und Filmschauspielerin Alexandra Lamy gespielt wird, umgehen soll. Grégory Gadebois war in „Die einfachen Dinge“ der Hagestolz, hier schließt er direkt an die frühere Rolle an.
Besnard verbindet mit seinem Drehbuch geschickt die Erforschung eines ländlichen Kosmos mit den Konsequenzen der Ereignisgeschichte. Louise hat nämlich prägende und auch traumatisierende Erfahrungen in der Revolution von 1871 gemacht, in der Pariser Commune, diesem Schlüsselmoment für die Vorstellungen von Fortschritt. In den kommunistischen Systemen des 20. Jahrhunderts (und in deren Kino) waren die Dorfschullehrer an der Peripherie dann auch Helden der Produktion – und der Indoktrination. Louise Violet hingegen hat zwar eindeutig einen Wissensvorsprung, aber sie muss lernen, dass Bildung nicht oktroyiert werden kann. Auch in dieser Hinsicht ist „Louise und die Schule der Freiheit“ eine Geschichte, die aus den Lernprozessen mit dem Fortschritt erwachsen ist.
Der deutsche Titel trifft die Sache in diesem Fall sehr gut. Nachhaltig ist das Lernen vor allem, wenn es aus Vorgängen erwächst, die pädagogisch nur ausgelöst, nicht aber vorgegeben werden. Woke Avantgarden würden sich in Louise Violet vermutlich nicht wiedererkennen, aber vielleicht könnte dieser altmodische Film sogar ein Exempel für die heutige Gesellschaft sein?