Kino-Regiedebüt von Ariane Labed „September & July“ | ABC-Z

Vom ersten Bild an hängt die Welt von „September & July“ schief in den Angeln. Zwei kleine Mädchen in weißen Kleidern, offensichtlich Wiedergängerinnen der filmgeschichtsträchtigen Zwillinge aus Stanley Kubricks „Shining“, werden von der Mutter mit Kunstblut bespritzt, bevor die Kamera das Foto auslöst. Schnitt, und Jahre später stehen die Mädchen wieder vor der Kamera der Mutter. Ihre Begeisterung hält sich in Grenzen, die Kleider haben die Zwischenzeit mehr schlecht als recht überstanden.
„Wenn eine von uns leben dürfte, wärst du es“
September (Pascale Kann) und „silly July“ (Mia Tharia), wie ihre zehn Monate ältere Schwester sie neckisch nennt, scheinen tele-empathisch miteinander verbunden. Morgens schlurfen sie gemeinsam aus dem Haus, in dem sie mit der psychisch angeschlagenen, künstlerisch arbeitenden Mutter Sheela (Rakhee Thakrar) leben, und fahren mit dem Rad zur Schule. September ist die Dominante, die Wütende: Wenn die Schwestern in der Schule mal wieder als Freaks gebrandmarkt oder wegen der indischen Wurzeln ihrer Mutter rassistisch gemobbt werden, brüllt sie zurück, schneidet einer Mitschülerin im Unterricht den Zopf ab oder verkloppt einen Jungen in der Schwimmhalle. July wiederum tut alles, was ihre Schwester ihr bei „September says“, ihrer Variante des berühmten Spiels „Simon says“, als Aufgabe zuteilt, wie eklig oder bescheuert es auch sein mag. „Wenn eine von uns leben dürfte, wärst du es“, sagt July einmal, und man glaubt ihr das aufs Wort.
Gleich mit ihrem exzentrischen Regiedebüt wurde Ariane Labed in die Nebenreihe „Un Certain Regard“ von Cannes eingeladen. Das Werk, das auf dem 2020 erschienenen Roman „Die Schwestern“ der britischen Autorin Daisy Johnson basiert, folgt den titelgebenden Außenseiterinnen in eine ambivalente Choreographie zwischen Schutz, Abhängigkeit und Dominanz, in der auch die Mutter ihre spezielle Rolle spielt und nicht immer gleich klar ist, wer hier wen in ein zu klein gewordenes soziales Kleid zwängt.
Die Welt von „September & July“ weckt Erinnerungen an die Filme der „Greek Weird Wave“, die Labed als Schauspielerin entscheidend mitgeprägt hat. In Athina Rachel Tsangaris fulminantem Debüt „Attenberg“ spielte sie eine Frau, die eine Art tierisches Coming of Age erlebte. Die Schwestern in „September & July“ geben zwischendurch ebenfalls tierische Laute von sich und gebärden sich dementsprechend; auch hier wird, wie bei Tsangari, der Naturfilm-Prophet Richard Attenborough mit einer Reportage involviert – es geht um Seepferdchen.
Die Liebe zu den freakigen Schwestern ist spürbar
Buchstäbliche oder metaphorische Vierbeiner stehen im Kino ja meist für wilde Auf- und Umbrüche; das trifft auch auf Labeds Debüt zu. In „Alpen“ wiederum, einem frühen Film ihres Ehemanns Yorgos Lanthimos, gab Labed eine Frau, die mit einem Kollektiv in die Rolle Verstorbener schlüpft, um den Angehörigen den Abschied zu erleichtern, und die schließlich ihre persönliche Utopie in einem ewigen Reenactment suchte. Auch „September & July“ verhandelt das Thema Identität.

Labed provoziert dabei bewusste Irritationen, indem sie ihren Film als Grenzgang zwischen Komödie, Familiendrama und Verstörung inszeniert. Soziologisch kühl wie im Frühwerk ihres Mannes ist ihr Blick dabei nicht; ihre Liebe für die freakigen Schwestern ist, allen Entrücktheiten zum Trotz, jederzeit spürbar.
Ein tiefenpsychologischer Setzkasten
Nachdem September von der Schule suspendiert wird und nach einem Vorfall, den Labed nur andeutet, verlassen die Schwestern mit ihrer Mutter Oxford und kommen in dem leer stehenden, bis an die Decke mit Erinnerungen zugeramschten Haus ihrer Großmutter nahe der irischen Küste unter. Dieses Haus und die neue Umgebung werden zum tiefenpsychologischen Setzkasten, in dem innerfamiliäre Traumata an die Oberfläche drängen, ohne je ausbuchstabiert zu werden. Auch Sheelas Depressionen treten stärker in den Vordergrund.
In einer lustigen Szene gabelt die beziehungsgeschädigte Frau einen Typen in einer Bar auf und redet kurz darauf beim Sex im elterlichen Haus aus dem Off mit sich selbst. Vor allem aber wird das Haus zu einem Ort, an dem Julys Erwachsenwerden, ihr Anbandeln mit einem Jungen, das ohnehin ambivalente Ungleichgewicht zwischen den Schwestern zusehends kippen lässt. Je autonomer July sich gibt, desto heftiger reagiert September, und desto krasser werden die Aufgaben des Spiels. July soll erst ein ganzes Glas Mayonnaise essen und sich später mit einem Messer am Hals verletzen. Die Dominanz scheint in perverse Machtdemonstrationen zu kippen.
Mit „September & July“ fügt Ariane Labed der Paargeschichte des Kinos ein erinnerungswürdiges Schwesternpaar hinzu. Großen Anteil daran haben die beiden phantastischen Hauptdarstellerinnen Pascale Kann und Mia Tharia, die sich ohne Scheu in ihre Figuren werfen. Und auch Rakhee Thakrar, die durch ihre Rolle in der Netflixserie „Sex Education“ einem größeren Publikum bekannt geworden ist.
Der Film ist eine psychologische Tiefenbohrung ohne platte Psychologisierungen. Labed erzeugt, unterstützt von der konzentrierten Montage der deutschen Filmeditorin Bettina Böhler und der atmosphärischen, auch ins Düstere kippenden Musik von Johnnie Burn, einen filmischen Raum, der lange bewusst im Vagen bleibt, bevor er sich zu einem Twist verdichtet. Ein stilistisch bemerkenswertes Debüt, das viel über familiäre Abhängigkeitsstrukturen erzählt – und davon handelt, wie schrecklich und zugleich nötig der Abnabelungsprozess sein kann.