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KI: Schädliche Regulierung? Deutschlands verkannter Standortvorteil | ABC-Z

In Deutschland herrscht die Sorge, wirtschaftlich abgehängt zu werden. Bei der Zukunftstechnologie KI ergibt sich jedoch ein anderes Bild. In einem Feld ist der Standort sogar „global führend“ – und könnte deshalb zu China und den USA aufschließen.

Man kann es den „Mistral-Schock“ nennen. Erst im Mai 2023 an den Start gegangen, hat das französische Unternehmen Mistral AI sich in weniger als einem Jahr als führendes europäisches KI-Unternehmen etabliert. Das von ehemaligen Mitarbeitern von Google und Meta gegründete Start-up wurde in der jüngsten Finanzierungsrunde mit sechs Milliarden Euro bewertet und gehört damit zu den am höchsten bewerteten Jungunternehmen in diesem Bereich weltweit. Der Senkrechtstarter hat den Blick darauf gelenkt, dass sich in Paris in den vergangenen Jahren eine höchst lebendige Tech-Szene entwickelt hat. Die französische Hauptstadt gilt als führende KI-Metropole auf dem Kontinent.

Die Erkenntnis, dass Frankreich derzeit der europäische KI-Leuchtturm ist, hat hierzulande für einen Wachrüttel-Effekt gesorgt, ähnlich wie beim Sputnik-Schock in den 1960er-Jahren, als die Sowjets vor den Amerikanern einen Satelliten ins All geschossen hatten, eben jenen mit dem Namen Sputnik. Denn Beobachter erwarten zu Recht, dass sich die Entwicklung fortsetzt und verstärkt: Wo sich viele Unternehmen einer Branche ballen, kommen andere dazu, weil sie vom konzentrierten Personal und Know-how profitieren wollen. Frankreich könnte so seine Position als Europas führende KI-Nation zementieren.

Die Sorge, bei KI nicht abgehängt zu werden, ist durchaus berechtigt. Sie gilt als Querschnittstechnologie, die langfristig in fast allen Branchen und gesellschaftlichen Bereichen für Strukturwandel sorgen wird. Zumindest gehen Beobachter davon aus. Deshalb ist es für Unternehmen, Regierungen und ganze Volkswirtschaften entscheidend, sich in Position zu bringen, von der schnellen technischen Entwicklung und noch schnelleren Verbreitung der Technologie zu profitieren – und nicht davon abgehängt zu werden.

Was angesichts von Mistral-Schock und dem Hype um amerikanische Chatbots wie ChatGPT leicht übersehen wird: Deutschland ist dabei im internationalen Vergleich sehr gut aufgestellt. Die OECD bezeichnet Deutschland als „global führend“ bei der KI-Forschung. Das gilt für öffentliche Forschungseinrichtungen wie das Fraunhofer-Institut und private Firmen gleichermaßen.

Gleichzeitig hat Deutschland es geschafft, viele KI-Experten anzulocken. Das ist nicht trivial: „Es gibt nur eine Handvoll Menschen, die wissen, wie man Modelle baut und trainiert“, sagt Vanessa Parli. Sie ist Forschungsleiterin am Stanford Institute for Human-Centered Artificial Intelligence (HAI). „Aber auch der Pool anderer KI-Fachleute ist sehr klein. Die Zahl dieser Fachkräfte wird wachsen. Aber wer sie für sich gewinnen kann und wo sie arbeiten, wird auch darüber entscheiden, wo wir die nächsten Durchbrüche in diesem Bereich sehen werden.“

Laut OECD ist Deutschland dabei auf einem guten Weg: In den vergangenen Jahren sind mehr KI-Experten ins Land gekommen, als das Land verlassen haben. Das ist nicht überall so. Indien etwa hat unterm Strich KI-Experten verloren.

Deutschland verfügt über nötige Rechenkapazitäten

Hinzu kommt, dass Deutschland mitbringt, was vor allem die Forscher brauchen, die Modelle trainieren: gewaltige Rechenkapazitäten. In den USA haben große Cloud-Firmen wie Microsoft oder Amazon die nötige Rechenleistung. Microsoft hat für die Beteiligung am führenden KI-Unternehmen OpenAI auch mit Rechenleistung bezahlt. Start-ups in Europa sind auf den Staat angewiesen. Das Modell von Mistral etwa wurde auf Computern in öffentlichen Einrichtungen trainiert. Deutschland ist hier laut internationalen Experten jedoch gut aufgestellt, nicht zuletzt wegen der Supercomputer, die in Forschungsinstituten stehen.

Ein häufig verkannter Standortvorteil ist die KI-Regulierung. Oft denkt man bei diesem Thema an Verbote oder Einschränkung. Regulierung gibt aber auch Unternehmen und Verbrauchern die Sicherheit, die nötig ist, um in neue Technologien zu investieren und sie zu nutzen. Deutschland war in dieser Hinsicht ein Pionier: Denn die Bundesregierung war eines der ersten Länder, das KI reguliert hat.

Wie früh die Bundesregierung dabei war, zeigen Zahlen der OECD: Noch 2016 zählte Deutschland zu einer Handvoll Länder, die überhaupt nationale KI-Strategien hatten. Heute zählt die Organisation 1000 Initiativen in 70 Ländern. „Deutschland und Frankreich gehören zu den Pionieren, die frühzeitig erkannt haben, welche Revolution diese Technologie mit sich bringen würde“, sagt OECD-KI-Expertin Lucia Russo.

„Solide Regulierung sorgt langfristig für Innovation“, sagt Pablo Fuentes Nettel von Oxford Insights, einer Technologie-Beratung, die vor allem mit dem öffentlichen Sektor arbeitet. „In einem Umfeld mit soliden Regeln wissen Innovatoren, womit sie rechnen können und können ihre Entwicklung und Geschäftsmodelle besser planen.“ Europa, das derzeit China und den Vereinigten Staaten technologisch hinterherhinkt, könne auf der Grundlage solider Regulierung zum Spitzenfeld aufschließen.

Deutschlands KI-Schwachstellen

In anderen relevanten Segmenten liegt Deutschland allerdings zurück. Die OECD warnt unter anderem, dass es hierzulande zu wenig Risikokapital gibt, um junge Unternehmen zu finanzieren. In Frankreich hingegen stellte die staatliche Entwicklungsbank BPI vor einigen Jahren einen Fonds von drei Milliarden Euro zur Verfügung, um junge Deep-Tech-Unternehmen von der Gründung bis zur Marktreife zu finanzieren. Ziel der Initiative: 500 neue Unternehmen pro Jahr.

Eine Schwachstelle hierzulande sehen Experten auch in der Verfügbarkeit und beim Austausch von Daten, sowohl in der Verwaltung als auch in und zwischen Unternehmen. Viele Daten ließen sich nicht verknüpfen, weil Schnittstellen fehlten oder die Daten unterschiedlicher Verwaltungen unterschiedlich strukturiert seien, sagt Fuentes Nettel vom Beratungsunternehmen Oxford Insights.

Mehr Daten der öffentlichen Verwaltung sollten offen zugänglich sein, Standards für den Austausch von Daten könnten dafür sorgen, dass auch Unternehmen Daten austauschen. „Mit Verbesserungen in diesem Bereich könnte Deutschland einen großen Sprung machen. Auch für die öffentliche Verwaltung würden sich viele Möglichkeiten eröffnen, KI zu nutzen.“

Vor allem aber sind die Unternehmen hierzulande gefragt. Die OECD etwa stellt fest, dass Deutschland bei den KI-Grundlagen Spitzenklasse ist, die Technologie aber trotzdem weit weniger genutzt wird als es die Grundlagenstärke vermuten lässt. „Innerhalb der EU nutzen deutsche Unternehmen KI überdurchschnittlich, gehören jedoch nicht zu den Spitzenreitern“, sagt Russo.

Das sei problematisch: Untersuchungen zeigen, dass größere und ohnehin produktivere Unternehmen KI eher nutzen. „Dieses Muster birgt das Risiko, die Produktivitäts- und Lohnunterschiede noch zu vergrößern“, warnt Russo. KI könnte auf diese Weise dafür sorgen, dass die Produktivitäts-Kluft noch wächst. Das hat nicht nur Folgen für die Unternehmen, die zurückfallen: Wie schnell die gesamte Wirtschaft breitflächig KI einsetzt, entscheide auch darüber, wie sehr die gesamte Volkswirtschaft vom Einsatz profitiert, so die OECD-Expertin.

Sie glaubt aber, dass deutsche Firmen inzwischen die Zeichen der Zeit erkannt haben könnten: Umfragen hierzulande zeigten in den vergangenen zwei Jahren ein gestiegenes Interesse. „Das deutet darauf hin, dass deutsche Unternehmen an einem Wendepunkt in der KI-Adaption stehen könnten“, sagt Russo. Noch haben sie Zeit, sich darauf vorzubereiten.

Tobias Kaiser ist Korrespondent für europäische Wirtschaft. Er verfolgt andere europäische Volkswirtschaften, schreibt über den Standortwettbewerb auf dem Kontinent und berichtet vor Ort über Entwicklungen und deren Folgen für Deutschland.

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