Kaum eine Schule nach jüdischen Widerstandskämpfern benannt | ABC-Z
Die kleine Ella weiß Bescheid. „Sophie Scholl hat sich für Gleichberechtigung aller Menschen eingesetzt – egal, ob jemand blond oder braun ist, eine Behinderung hat oder nicht“, sagt die Grundschülerin in das Mikrofon, das ihr Moderatorin Clarissa Corrêa da Silva vor die Nase hält. Ihre Mitschülerin Kathalea fügt hinzu: „Sie war eine sehr mutige Frau“ – und habe sich mit der Gruppe „Die weiße Rose“ am Widerstand gegen die Nationalsozialisten beteiligt. Die Moderatorin des Kinderkanals Kika ist mit einem kleinen Team nach Gießen in die Aula der integrativen Sophie-Scholl-Schule gekommen, um mit Vertretern der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der örtlichen Justus-Liebig-Universität eine Studie über die Namen aller Schulen in Deutschland vorzustellen. Es ist die erste Untersuchung dieser Art, wie Professor Sascha Feuchert als Leiter der Arbeitsstelle hervorhebt.
Der Ort ist gut gewählt, wie sich gleich zu Beginn der Präsentation der von Kika-Chef Matthias Huff angeregten Studie zeigt: Sophie Scholl ist in der Rangliste der Namensgeber hinter den Pädagogen Maria Montessori und Johann Heinrich Pestalozzi an Platz drei vor Astrid Lindgren und Albert Schweitzer; Johann Wolfgang von Goethe steht auf Platz acht vor Friedrich Schiller. 182 Schulen hierzulande haben sich demnach nach der von den Nazis hingerichteten Widerstandskämpferin benannt, 91 mehr nach Montessori. Die Aufzählung könnte den Eindruck vermitteln, viele Schulen seien nach einer Frau benannt. Das ist aber nicht der Fall, wie Feuchert sagt. Im Gegenteil: Nur ein Sechstel der untersuchten 30.500 Schulen trägt nach seinen Worten einen weiblichen Namen. Das sei „ein bisschen deprimierend“. Und es zeige, wie Geschichte nach wie vor wahrgenommen werde, nämlich vor allem von Männern gemacht. „Die Studie ist wichtig, um solche Dinge freizulegen“, fügt der Forscher hinzu.
Siebzig Namensgeber als „Mitttäter“ eingestuft
Sogar massiv unterrepräsentiert sei in der Vielfalt der Namen von Schulen der jüdische Widerstand gegen das NS-Gewaltregime. Demgegenüber seien vergleichsweise viele dieser Einrichtungen nach Vertretern des nichtjüdischen deutschen Widerstands benannt. Dies gaukele vor, es habe im Dritten Reich viel Widerstand gegeben. „Doch dem war nicht so“, hebt Feuchert hervor. Überdies haben die Gießener Forscher auch 80 nach Menschen mit NS-Vergangenheit betitelte Schulen gefunden. Wie Feucherts Kollegin Jennifer Ehrhardt sagt, handele es sich bei diesen insgesamt 70 Namensgebern um als „Mitläufer“ eingestufte Personen. Die wenigsten dieser Schulen spiegelten auf ihrer Internetseite eine nähere kritische Beschäftigung mit dem jeweiligen Namensgeber wider. Den Namen Anne Frank trügen im Übrigen nur fünf Schulen mehr.
350 Namensgeber hätten einen direkten Bezug zur NS-Zeit. 970 Schulen trügen einen Namen aus einer Gruppe von 280 Opfern. Weitere 700 seien nach einem von insgesamt 170 Widerstandskämpfern betitelt. „Das ist nicht nichts, aber es sind auch nicht überbordend viele“, meint Feuchert.
Die Forschergruppe hat für ihre Studie ein Textanalyseprogramm genutzt und Einträge in Wikipedia ausgewertet, wie Ehrhardt erläutert. Demnach haben sich nur etwa 40 Prozent der Schulen nach einem Menschen benannt und nicht nur nach Ort und Schulform. 4300 Namensgeber fänden sich in der Studie. Gut ein Viertel seien Schriftsteller, 21 Prozent Geistliche und Heilige, was Feuchert als überraschend hohen Wert einstuft, hinzu kämen 13 Prozent Pädagogen und zwölf Prozent Politiker. Vertreter des Militärs seien im Vergleich zu früheren Jahrzehnten weit abgeschlagen.