Kastilien bietet malerische Dörfer und Natur | ABC-Z

„Meine Frau mag die Kerzen lieber im Haus, ich finde sie draußen schöner“, erklärt Ricardo Rodrigo Martín, während er Reihen von Kerzen an den schmiedeeisernen Fenstergittern des Hauses seiner Mutter in Pedraza befestigt. Der 71-Jährige, der sein Berufsleben in Madrid verbrachte, kehrt als Ruheständler wieder häufig in den Ort seiner Kindheit und Jugend zurück. Vor allem zur „Nacht der Kerzen“ Anfang Juli, wenn Geschäfte und Privathaushalte auf elektrisches Licht verzichten und Pedraza stattdessen im Licht von rund 30.000 Kerzen erstrahlen lassen. Später werden vor der Kulisse der Burgruine im Freien hochkarätige klassische Konzerte gespielt – 2024 waren so die Berliner Symphoniker zu Gast.
Seit 1992 finden die „Noches de las Velas“ an den ersten beiden Samstagen im Juli statt und haben das Dorf landesweit bekannt gemacht. Obwohl hier 320 Menschen gemeldet sind, leben nur knapp 60 das ganze Jahr über in dem Sprengel. Schon am Nachmittag strömen die Besucher zu Fuß nach Pedraza, dessen schmale Gassen nur bedingt für Autos geeignet sind – für Gegenverkehr ist hier kein Platz, geparkt wird außerhalb. Nach Sonnenuntergang, wenn ein kühler Wind von der Sierra Konzertbesucher frösteln lässt, werden die Kerzen entzündet: in Fenstern, vor Häusern, auf Mauern und am Boden, wo man sie zu Störchen, Notenschlüsseln und Mustern arrangiert.
Auf der kargen Hochebene Nordkastiliens lässt sich wenig anderes als Viehwirtschaft betreiben. In Pedraza setzte man auf Schafzucht. Bis ins ferne Flandern verkauften die Bewohner die weiche Wolle ihrer Merinoschafe und konnten sich bald schmucke Stadtpaläste leisten. Viele von ihnen zieren Adelswappen. Sie stammen aus jener Zeit im Mittelalter, als das christliche Spanien die iberische Halbinsel von den arabischen Invasoren, die neben Baukunst und kulturellen Errungenschaften auch das Merinoschaf mitgebracht hatten, Stück für Stück zurückeroberte. Wer auf einem Pferd sitzen und eine Lanze halten konnte, wurde für seine Mühen bei der Reconquista mit einem Titel belohnt. Die Araber hatten den Norden des Landes zwar beherrscht, aber nie besiedelt – womöglich fanden sie das Land der Störche und Steineichen zu kalt.
Jahrhunderte später ist das Bild des auf 1070 Meter Höhe gelegenen Städtchens nahezu unverändert: Das schmale, im 17. Jahrhundert neu gestaltete einzige Stadttor und das einstige Zwei-Zellen-Gefängnis (in das sich bis zu 30 Personen drängen mussten) nebenan; die Plaza Mayor; das Haus der Inquisition, die bis 1835 über die Sitten wachte und Bücher zensierte; Storchennester auf Giebeln und Türmen – all das ist frei von sichtbaren Merkmalen des 21. Jahrhunderts und brachte Pedraza 2019 die Auszeichnung als schönstes Dorf der Autonomen Gemeinschaft Kastilien und León in der Kategorie von Orten mit unter tausend Einwohnern ein.
Immer schon war die 94.000 Quadratkilometer große Hochebene dünn besiedelt. Doch die Zahl ihrer Bewohner – derzeit 2,3 Millionen – ist seit den 1950er- und 1960er-Jahren deutlich gesunken. Viele Menschen folgten dem Ruf der Metropole Madrid, zu deren Annehmlichkeiten auch Jobs außerhalb der Viehwirtschaft gehören. „Dies ist das entvölkerte Herz Spaniens“, erklärt Mark Zoder und deutet auf die weite Landschaft jenseits der Stadtmauern. Der deutsche Historiker und Tour-Guide kam Ende der 1980er-Jahre wegen des Studiums in die Universitätsstadt Salamanca, erlag der Schönheit Nordspaniens und blieb. „Im Großraum Madrid leben sechseinhalb Millionen Menschen, die meisten Spanier aber sind in den Küstenregionen zu Hause.“
In die Metropole und an die Küsten zieht es auch die meisten Urlauber. Neben der Nacht der Kerzen soll auch die „Route der Farbigen Dörfer“ Reisende motivieren, sich abseits bekannter Highlights umzuschauen und so auch den schrumpfenden Sprengeln neue Impulse geben. Viele Besucher Madrids beschränken sich auf Ausflüge in die 50.000-Einwohner-Stadt Segovia, die tatsächlich Spektakuläres bietet: einen gewaltigen, 700 Meter langen und bis zu 28 Meter hohen römischen Aquädukt, einen dem französischen Versailles nachempfunden königlichen Palast und nicht zuletzt eine vor Leben sprühenden Altstadt, die die Unesco zum Weltkulturerbe zählt. Dennoch ist das ländliche Kastilien womöglich der Ort, an dem Spaniens Herz immer schon schlug. Nicht umsonst gab es hier im 15. Jahrhundert, als die Krone von Kastilien sich mit der Entsendung des Genueser Seefahrers Columbus zur Großmacht aufschwang, bereits 20 veritable Städte. Während des Franco-Regimes im 20. Jahrhundert, das sich mehr für eine Industrialisierung Spaniens als für die Entwicklung ländlicher Regionen interessierte, zog ein Großteil der Bevölkerung in größere Städte. Viele uralte Städtchen und Dörfer wurden in der Zeit verlassen, nie entwickelt und modernisiert, aber auch nicht durch Neubauten zerstört.
Die farbigen Dörfer verdanken ihre Farben unterschiedlichen Materialien – die schwarzen sind aus Schiefer erbaut, die gelben aus hellem Granit, die rötlichen aus eisenhaltigem Stein. Sie illustrieren eindrücklich, warum es in Spanien schon seit Jahrzehnten ein Programm zur Wiederbelebung verlassener Dörfer gibt. Im gelben Alquité, das sogar eine kleine Bar besitzt, leben ganzjährig sechs Menschen. Im Sommer kommen ein paar Madrileños hinzu, die an den Häusern ihrer Eltern oder Großeltern werkeln. Zehn Menschen bewohnen das schwarze Dorf El Muyo, wo zerfallende Häuser von der Abwanderung zeugen. An einigen wird wieder gearbeitet; mehr und mehr Erben alter Häuser erwärmen sich für die Idee eines Wochenend- oder Feriensitzes auf dem Land. Das rote Madriguera hat mit 18 permanenten Bewohnern, gepflegten Rosengärten und der Kirche San Pedro mit ihrem hübschen Glockengiebel da fast schon kleinstädtischen Charakter.