Karl Renner: “Seiner Exzellenz Marschall Stalin” | ABC-Z

Als der ehemalige österreichische Staatskanzler Karl Renner am 15. April 1945 an den sowjetischen Diktator Josef Stalin schrieb, machte er sich längere Zeit Gedanken darüber, wie er den Brief beginnen sollte. Es sollte nicht zu vertraulich wirken, ausreichend distanziert, doch respektvoll sein und vor allem so, dass man die gemeinsame ideologische Grundlage herauslesen konnte. Schließlich entschied er sich für die Formulierung “Sehr geehrter Genosse”.
Renner, damals 76 Jahre alt, schrieb mit der Hand und drückte zu Beginn sein Bedauern darüber aus, Stalin noch nie persönlich begegnet zu sein. Mit Lenin war er zusammengetroffen, mit dem russischen Marxisten und Herausgeber Dawid Rjasanow hatte er bei der Arbeiter Zeitung zusammengearbeitet. Dann erwähnte er Trotzki, wohl wissend, dass dieser Stalins Todfeind geworden war. Vielleicht wollte Renner damit ein wenig Senilität vortäuschen. Doch er war geistig noch sehr rege. Nachdem das einmal geschrieben war, kam die Danksagung. Die Soldaten der sowjetischen 103. Garde-Schützendivision hatten Renner 80 Kilometer von Wien entfernt in Gloggnitz aufgestöbert. Renner hatte darauf gewartet. Er hatte seit 1938 weitgehend isoliert gelebt und sah jetzt eine Chance, wieder politisch tätig zu werden.